Fliegen lernen
Verstärkung für die Überlinger Waldrapp-Kolonie: Im Hegau werden neue Jungtiere der seltenen Ibis-Art an das Leben als Zugvogel herangeführt.
- Wenn Gefahr droht, springt Barbara Steininger auf den Tisch. Ihre Schützlinge sollen es ihr gleichtun und auffliegen. So werden die 35 jungen Waldrappe am sichersten sein, wenn sie eines Tages in freier Wildbahn leben. Hier, am Flugplatz von Binningen, einem Teilort von Hilzingen im Landkreis Konstanz, kommt die Bedrohung aus der Luft, von Greifvögeln, die dort manchmal kreisen. Das macht die Waldrapp-Jungvögel nervös, obwohl das Netz einer Voliere sie schützt. Sie äugen dann skeptisch nach oben und beobachten, was Barbara Steininger macht.
Die 28-jährige Wienerin und ihre Kollegin Helena Wehner aus Hessen sind die beiden Ziehmütter der Waldrappe – einer seltenen Ibis-Art. Selten ist auch der Job der beiden jungen Frauen: Sie sollen das Vertrauen der Jungvögel gewinnen, damit diese ihnen im Spätsommer folgen, wenn sie sich in einem Ultraleichtflieger auf den Weg in den Süden machen. Daher werden Wehner und Steininger die nächsten Monate den Alltag mit 35 Tieren teilen.
„In der Frühe sagen wir jedem Vogel guten Morgen“, erzählt Steininger, die in Wien gerade ihren Master in Wildtierökologie gemacht hat. Für das Gespräch hat sie kurz ihre klassenzimmergroße Voliere verlassen. „Wir schauen, dass wir jedes Tier am Tag öfters sehen, wir setzen uns zu jedem mal dazu.“
Niemand sagt, dass es leicht ist, das Vertrauen eines Vogels zu erlangen. Zumal die beiden jungen Frauen nicht nur an Tagen wie
diesem in der Voliere sitzen, an dem die Sonne scheint und kein Regenschleier den Blick auf den unmittelbar benachbarten Hohenstoffeln und andere HegauVulkane trübt. Um für die Waldrappe erkennbar zu sein, tragen Wehner und Steininger stets den gleichen zitronengelben Pulli. Immerhin: Abends, wenn die Tiere schlafen – manche noch liegend, andere schon stehend auf einem Bein – dürfen sie die Voliere verlassen und sich in einen Wohnwagen zurückziehen.
Der Waldrapp ist heute ein extrem seltener Vogel. Die alten Ägypter haben ihn verehrt, die Menschen im Mittelalter haben ihn verspeist. Seit dem 17. Jahrhundert galt er in Europa als ausgestorben. Zuletzt gab es weltweit noch eine einzige Kolonie in freier Wildbahn, in Marokko.
Das österreichische Artenschutzprojekt Waldrappteam um den Tiroler Biologen Johannes Fritz arbeitet mithilfe von EU-Fördermitteln und weiteren Geldgebern seit einigen Jahren daran, den Waldrapp in Europa wieder heimisch zu machen. Dass der Vogel mit seiner Glatze und seinen abstehenden Schopffedern eine auffällige Erscheinung von eher herber Schönheit ist, hilft dabei, Aufmerksamkeit zu erlangen.
Ungewöhnlich auch: Der Waldrapp war einst ein Zugvogel. Doch anders als beispielsweise der Storch hat er den Drang gen Süden nicht in den Genen, er muss das Zugvogeldasein erst lernen. Da es keine älteren Artgenossen gibt, von denen er es sich abschauen kann – die Waldrappe des Projekts stammen von Zootieren ab – bleibt nur der Mensch.
Daher das Bestreben der beiden Ziehmütter, eine enge Bindung aufzubauen. „Menschengeführte Migration“, heißt das, was das Waldrappteam seit einigen Jahren organisiert: Die Ziehmütter begleiten die Jung vögel auf ihrem ersten Flug in den Süden. Sie nutzen dafür einen Ultraleichtf lieger und tragen auch während des Flugs den gelben Pulli.
Auf diese Weise hat das Waldrappteam schon über 300 Tiere an das Dasein als Zugvogel herangeführt. Erste Standorte nördlich der Alpen waren Kuchl im Salzburger Land sowie das bayerische Burghausen, wo inzwischen Brutkolonien etabliert sind. Ab 2017 wurden Jungtiere in der Nähe von Überlingen aufgezogen, 2020 kehrten die ersten von ihnen zurück. Inzwischen gibt es auch dort eine Brutkolonie.
Die Zahlen zu den Überlinger Waldrappen kann Anne-Gabriela Schmalstieg aus dem Stand referieren, sie hat gerade erst am Vortag nachgezählt: „Dreizehn adulte Vögel, 17 Eier in fünf Nestern, und ich erwarte ein weiteres Nest.“Schmalstieg war jahrelang Waldrapp-Ziehmutter. Nun betreut sie die Überlinger Nester. Die Waldrapp-Generation, die jetzt in Hilzingen aufgezogen wird, soll Teil der Überlinger Kolonie werden. Diese nistet bislang in einer künstlichen Brutwand und verweigert standhaft den von ihren menschlichen Betreuern geplanten Umzug an eine Felswand in der Nähe des ehemaligen Gartenschaugeländes.
Gemeinsam ist den Kolonien am Bodensee, in Bayern und im Salzburger Land das Überwinterungsgebiet, die Lagune von Ortobello in der südlichen Toskana. Dorthin haben die Ziehmütter im Ultraleichtf lieger die Waldrappe bislang stets geführt.
Für die Hilzinger Jungtiere gilt das nicht. Zusätzlich zur Toskana-Fraktion wird es künftig eine Andalusien-Gruppe geben. Grund ist der Klimawandel, wie Johannes Fritz, der Chef des Waldrappteams, beim Besuch an der Hilzinger Voliere erläutert. „Die Wärme im Herbst hatte einen immer späteren Abf lug zur Folge, zuletzt erst Ende Oktober“, berichtet der Biologe. „Je später im Jahr es ist, desto schlechter sind aber die thermischen Bedingungen. Die Tiere schaffen es nicht, die Alpen zu überwinden.“Im vergangenen Herbst haben Fritz und seine Mitarbeiter mehr als vierzig Waldrappe am nördlichen Alpenrand eingesammelt. Das war möglich, weil die Tiere einen Sender tragen. Da ihnen der Flug über die Alpen misslang, wurden sie schließlich mit dem Auto nach Italien gefahren.
Das neue Brutgebiet in Andalusien, nahe Gibraltar, ist zwar dreimal so weit entfernt. Dafür ist kein Hochgebirge zu überqueren. Die Pyrenäen können die Vögel an der Küste umf liegen. Außerdem gibt es in der Region ein weiteres Artenschutzprojekt. Dort werden Waldrappe angesiedelt, die das ganze Jahr dort verweilen. Fritz geht davon aus, dass sich beide
Gruppen vermischen. Zugvögel haben dabei den Vorteil, dass sie mehr Junge haben – durchschnittlich 2,4 pro Nest sind es im Jahr. Das ist nötig, denn von den nun mit viel Mühe aufgezogenen Tieren wird den Erfahrungen zufolge nur die Hälfte das erste Jahr überleben. 30 Prozent erreichen die Geschlechtsreife. Das seien aber noch gute Werte, findet Johannes Fritz. Junge Weißstörche leben noch gefährlicher, von ihnen kommen nur 35 bis 40 Prozent über das erste Jahr hinaus.
Eine Gefahr, die auf dem Weg nach Süden lauert: In Italien ist die illegale Vogeljagd noch immer verbreitet. Ein Drittel der Waldrapp-Verluste in dem Land sind laut Fritz darauf zurückzuführen.
Ein weiteres Problem sind Stromleitungen. Sie verursachen 40 Prozent der Verluste. Dabei könnten Masten an Überlandleitungen baulich gesichert werden, damit Vögeln der Stromtod erspart bleibt, sagt Fritz. Deutschland hat die Nachrüstung vorgeschrieben, seit 2016 gebe es hier keine Verluste mehr. Anders in Italien, in der Schweiz und Österreich.
Von Problemen durch Windräder weiß Fritz dagegen nicht zu berichten. Im Winterziel Andalusien gebe es davon eine Menge, und die spanischen Kollegen hätten nicht von Verlusten berichtet. „Der Waldrapp scheint eine Vogelart zu sein, die mit Windkraft gut zurechtkommt.“
Trotz aller Gefahren wächst die Zahl der ausgewilderten Waldrappe. Das Ziel der Artenschützer ist, dass sich die Art auch ohne menschliches Zutun in Mitteleuropa hält. Bis 2028 hat das Waldrappteam Zeit, so lange
läuft die aktuelle EU-Förderung. Nach Fritz’ Berechnung braucht es dafür 340 Vögel. Das sei „in erreichbarer Distanz“.
Gerade werden die Waldrappe nach und nach f lügge. Das sei der Fall, wenn sie von der Rampe des Aufzuchtwagens in die Voliere und wieder zurück fliegen können, sagt Ziehmutter Barbara Steininger. Manche Tiere brauchten dafür Zeit: „Sie sitzen erst auf der Rampe und schauen in die Tiefe.“Die zwei, drei Meter hinunter zu ihren Artgenossen in der Voliere scheinen ihnen nicht ganz geheuer. Und doch werden sie noch in diesem Jahr nach Spanien f liegen.