König der Romantik
Zum 250. Geburtstag von Ludwig Tieck erscheint der Sammelband „Wilde Geschichten“
Unter seinen Zeitgenossen fand Ludwig Tieck durchaus Gehör. In seinen Dresdner Jahren hingen ihm bei den fast allabendlichen Lesungen in seiner Wohnung am Altmarkt die Literaturfreunde förmlich an den Lippen. Er war ein begnadeter Vorleser. Schon während des Studiums in Halle an der Saale soll er zwei Kommilitonen zu einem Lesemarathon eingeladen haben, um ihnen „Der Genius“von Karl Grosse vorzutragen. Mittags um vier fing er an. Nach acht Stunden und 480 Seiten fielen den Kommilitonen die Augen zu und Tieck musste die restlichen 120 Seiten allein lesen. Später waren die Frühromantiker in Jena begeistert von seinem Enthusiasmus und dem Eifer seiner Lesungen. Und selbst der gute Goethe, der von Romantikern bekanntlich nicht so viel hielt, verfiel Tiecks Charme als der aus seiner „Genoveva“las.
Bis heute wird der in Berlin geborene und ebendort verstorbene Ludwig Tieck (1773-1853) gerne „König der Romantik“genannt. Er war eine der zentralen Gestalten des deutschen Idealismus. Heute würde man sagen: ein Netzwerker. Mit Friedrich Schlegel gab er das Werk des früh verstorbenen Novalis heraus. Tieck war es auch, der die ersten Gesamtausgaben von Heinrich von Kleist sowie des Sturm-und-Drang-Dichters Michael Jacob Reinhold Lenz auf den Weg brachte. Mit seinen Übersetzungen erschloss er das Werk von Shakespeare für das deutsche Publikum. Nicht zu vergessen sein eigenes literarisches Schaffen, das von Gedichten, Erzählungen und
Novellen bis zu Romanen und Theaterstücken reicht.
Sieht man von Reclam-Heftchen und Digitaleditionen seiner Gesammelten Werke mal ab, ist fast keins seiner Bücher heute noch in einer aktuellen Ausgabe erhältlich. Weder sein „Peter Lebrecht“(1795-1796), noch „William Lovell“(1795-1796), oder „Franz Sternbalds Wanderungen“(1789). Nicht mal sein „Phantasus“(1812-1816), jene Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen, aus der seine bekanntesten Texte stammen. Es ist insofern also lobenswert, wenn jetzt zu seinem 250. Geburtstag am 31. Mai mit „Wilde Geschichten“immerhin eine Auswahl seiner wichtigsten Erzählungen wie „Der Blonde Eckbert“, „Liebeszauber“oder „Der Runenberg“erscheint. Jörg Bong und Roland
Borgards haben die Auswahl besorgt und mit Zwischentexten versehen, die den Zugang erleichtern sollen, was nicht wirklich gelungen ist, die Passagen sind zu kurz und oberflächlich.
So sehr Tiecks Sprache an Staub angesetzt haben mag: Die fantasievolle Konstruktion seiner Geschichten, in denen die verrücktesten Wendungen möglich zu sein scheinen, macht ihn zu einem Begründer der Moderne. Wer sich über die abgedrehten Handlungsverläufe diverser Netf lix-Serien echauffiert, sollte erst einmal Ludwig Tieck lesen. In ihm finden Filmemacher von heute ihren Meister.