Was Pferde fühlen
Eine Reitschule in Oberstadion setzt sich mit dem RAI-Reiten für eine andere Art des Reitens ein
- Eugen Schmid schlägt die Gerte mit voller Wucht auf den Tisch. Der Knall lässt alle Anwesenden zusammenzucken. „Das ist einfach nur dazu da, um dem Pferd Schmerzen zu bereiten“, sagt er. Er steht im Schulungsraum seiner Reitschule in Mühlhausen, einem Ortsteil von Oberstadion. Die Gerte ist für ihn eines von mehreren schmerzbringenden Hilfsmitteln, um ein Pferd „zu brechen“, wie er sagt. Auch Trense und Kandare fallen in diese Kategorie. „Das sind Eisenstangen“, sagt Eugen Schmid. „Das Pferd ist komplett verschnürt.“
Eugen Schmid ist Reitlehrer für RAI-Reiten, eine Reitart, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, besonders pferdefreundlich zu sein. Begründet hat sie Fred Rai. Der Country-Sänger, Reitlehrer und Gründer der süddeutschen Karl-May-Festspiele hat sich für ein Freizeitreiten ohne Schmerzen für die Pferde eingesetzt. „Druck erzeugt Gegendruck“, wird Eugen Schmid deshalb auch nicht müde, zu betonen.
Zum RAI-Reiten kam Eugen Schmid durch ein Pferd namens España. Die Stute habe alle Reiter abgeworfen, erzählt er. Eugen Schmid nahm sich ihrer an und stellte sie auf seinem Hof unter. Davor habe er viele Jahre nicht mehr auf einem Pferd gesessen, sagt er. Durch Zufall sei ihm ein Buch von Fred Rai in die Finger gefallen, in dem es um die Gefühlswelt von Pferden ging. Er habe sich immer weiter in das Thema eingelesen und schließlich einen Schnupperkurs bei Rai in Dasing bei Augsburg gebucht. Das habe ihn so sehr begeistert, dass er Rai auf seine Stute angesprochen habe. Der habe ihn und das Pferd zu sich auf den Hof eingeladen und mit ihnen trainiert. „Nach drei
Tagen bin ich auf España gesessen“, sagt Eugen Schmid.
„Sie will halt nicht gezwungen werden.“Das habe Rai ihm damals zur Erklärung gesagt. Das sei grundlegend so, sagt Eugen Schmid: „Pferde wollen gehorchen und machen alles mit, sie machen das freiwillig.“Ihrem Leittier würden sie überall hin folgen, sagt der Reitlehrer. „Wenn das Leittier von einer Klippe springt, springen die anderen Pferde hinterher.“Auf das Leittierprinzip richtet sich das RAIReiten aus – auf das Verhalten der Pferde in einer Herde. Dabei spielt die Psyche und die Gefühlswelt der Tiere eine große Rolle.
Wie das funktionieren kann, zeigt Eugen Schmids Mitarbeiterin Katinka Szeteli. Sie führt die Stute Polly nur an einem dünnen Halfter mit Strick hinter sich her über den Reitplatz. Die Stute folgt ihr mit gesenktem Kopf. „Das machen sie immer, wenn sie ihrem Leittier folgen“, sagt Eugen
Schmid. Auch ohne Strick funktioniert die Kommunikation zwischen den beiden. Katinka Szeteli schickt Polly mit einer Handbewegung von sich weg. Möchte sie, dass Polly antrabt, dann ruft sie ein fröhliches „Joggen“und macht im Gehen ein paar Sprünge. Das Pferd reagiert sofort. Um die Richtung vorzugeben, genügt eine Drehung mit der Schulter. Zu regeln sei das alles durch Dominanz, sagt sie: „Dominanz erreicht man nicht durch Angst vor Schmerz. Es geht um Respekt im positiven Sinn.“
Als ausgebildete Bereiterin habe sie auch die andere Seite erlebt, wie Pferde durch Peitschen und Hiebe in kürzester Zeit ausgebildet worden seien. Irgendwann habe sie das nicht mehr ertragen und habe dem Beruf den Rücken gekehrt, erzählt Katinka Szeteli. Es sei immer nur um Leistung gegangen, und das um jeden Preis. „Jeder Reitstil hat seine Berechtigung“, sagt Eugen Schmid. Es komme nur darauf an, wie der Umgang mit dem Pferd sei.
Die Ausbildung der Pferde würden die meisten Reiterinnen und Reiter nicht mitbekommen. Eigentlich sei die Ausbildung im englischen Reitstil, zu denen auch Dressur- und Springreiten gehört, sehr gut aufgebaut, sagt Katinka Szeteli. Den Pferden werde nur meist keine Zeit gelassen, sie müssten so schnell wie möglich alles beherrschen und das gehe nur mit Schmerz.
Anders sei das beim RAI-Reiten. Erst müssten Reiterinnen und Reiter ihr Pferd verstehen und sich den Respekt von ihm einholen. Deshalb gibt es bei dem Reitunterricht auch Theoriestunden, die sich auf die Verhaltensweisen und die Körpersprache von Pferden ausrichtet. Auch auf das Pferd kommen Schülerinnen und Schüler nicht direkt. Erst wird auf einem Holzpferd geübt. Dazu gehören Dinge, wie das rückenschonende Aufsitzen und die richtigen Hilfen, also Kommandos durch Beine und Körperhaltung.
Geritten wird auf einem von Fred Rai entworfenen Sattel. Zwar orientiert der sich am Westernsattel, ist jedoch nur sieben Kilo schwer – im Vergleich zu den bis zu 20 Kilogramm des Westernsattels. Dazu kommt die andere Sitzhaltung, die sich mehr an der Anatomie des Pferdes orientiert und die Vorderbeine entlasten soll. Mit dem RAI-Bändele, einem halfterähnlichen Strick um den Kopf, verzichtet der Reitstil auf die von Eugen Schmid kritisierte Verschnürung und die Eisenstange. „Das Bändele kann für die Pferde schon unangenehm werden“, sagt Eugen Schmid. „Aber ich komme nie in den Schmerzbereich.“Die Pferde könne man mit dem RAIBändele zu nichts zwingen.
Die Schwierigkeit sei deshalb, auch auf dem Rücken des Pferdes weiterhin als Leittier zu gelten. Die Grundlage dafür werde auf dem Boden gelegt. Die Dominanz werde durch typisches Leittierverhalten untermauert, sagt Eugen Schmid. So gebe es zur Belohnung Leckerli, die dürfe sich das Pferd jedoch nur abholen, wenn der Reiter oder die Reiterin es ihm erlaubt. Auch dürfe es nie vor dem Leittier gehen. Dazu kommt die Gefühlswelt. Laut der Lehre des RAI-Reitens spüren Pferde sofort die Gefühle ihres Gegenübers. Deshalb müssten Reiter immer entspannt sein und dürften niemals Angst zeigen. Denn das übertrage sich sofort auf das Pferd, sagt Eugen Schmid. Demonstrieren möchte er das bei einem Ausritt über die Felder rund um Mühlhausen. Hintereinander geht es über asphaltierte Wege, über Schotter und über Wiesen, vorbei an Spaziergängern und Fahrradfahrern – und an zwei großen Traktoren, die sich auf einem Feldweg nähern. „Was wir jetzt machen: Wir gehen hier rechts rüber und reiten normal weiter“, sagt Eugen Schmid, „sonst machen wir nichts.“„Zur Beruhigung könnt ihr auch immer mal wieder Hoho sagen“, fügt Katinka Szeteli an. Unbeeindruckt schieben sich Pferde und Traktoren aneinander vorbei. „Und jetzt lobt sie kräftig“, sagt die Reiterin, sagt „Hoho“und klopft ihrem Pferd auf den Hals.
„Die größte Belohnung für ein Pferd ist, wenn es nicht gestört wird“, sagt Eugen Schmid. Deshalb reiche das Bändele auch völlig aus, um mit dem Pferd zu kommunizieren – nicht zu vergessen die Gefühle. „Du musst es hier drin spüren“, sagt Katinka Szeteli und deutet auf ihren Bauch. Wenn sie mit einer bestimmten Intention und einem sicheren Gefühl im Bauch etwas vorhabe, dann könne das Pferd das auch ohne Weiteres umsetzen. Für manche Menschen sei das schwerer zu begreifen als für andere. Deshalb heben beide auch das Motto des Reitstils hervor: „Man muss das RAI-Reiten nicht erlernen – man muss es begreifen.“