Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Überall ist Bullerbü

Schweden hat einen neuen Fernradweg – Der 640 Kilometer lange Vänerleden führt um den gleichnami­gen See

- Von Florian Sanktjohan­ser

(dpa) - Die bunten Holzhäuser und Segelschif­fe von Mariestad liegen erst ein paar Minuten zurück, da kommt die erste Fernradler­in entgegen: eine junge Frau auf ihrem schwer bepackten Tourenrad. Oha, denkt man sich, da radelt der Trend.

Doch Johan Odh winkt ab. „Rennradeln und Mountainbi­ken sind in Schweden beliebt“, sagt der drahtige Mittvierzi­ger, der hier als Guide und Radhändler arbeitet und mit mir an der Südküste des Sees unterwegs ist. Das Reisen per Tourenrad ist weniger gefragt. Also falsch gedacht. Von einem Trend ist keine Rede – noch zumindest.

Auf dem Land fahren die meisten Schweden Auto, abgetrennt­e Radwege gibt es bisher kaum. Doch das soll sich nun offenbar ändern. Jedes Jahr werden neue Fernradweg­e eröffnet, sieben von ihnen sind mittlerwei­le als nationale Radtourism­uswege zertifizie­rt. Der mit Abstand längste von ihnen ist der 2022 eingeweiht­e Vänerleden. 640 Kilometer weit führt er rings um den größten See des Landes, acht bis zehn Tage dauert die gesamte Runde.

Das Ziel der Planer war es, die Route so nah wie möglich am Seeufer entlangzuf­ühren. Und so wenig Teerstraße wie möglich einzubauen. Warum, erlebt man bald. Kurz hinter Mariestad überholt ein Auto aggressiv eng, ein anderes hupt. Zum Glück biegt Guide Johan kurz darauf in einen Waldpfad.

In fast jedem Dorf am Wegesrand könnte man eine Schwedensc­hnulze à la Inga Lindström drehen. Überall rote Holzhäuser mit weißen Sprossenfe­nstern, eingewachs­en mit wildem Wein und Blumen. Nach einer Mittagspau­se geht es den Kinnekulle hinauf. Der blühende Berg, wie er auch genannt wird, lockt viele botanisch Interessie­rte. „Dieser Ort ist süßer als jeder andere“, schrieb der berühmte Naturforsc­her Carl von Linné im 18. Jahrhunder­t.

Auf den früheren Weiden wachsen viele seltene Arten. Im Mai bedecken Teppiche von Bärlauch und Gelben Windrösche­n die Hänge, manche Eichen sind viele Jahrhunder­te alt. Im Bergwald leben Tausende Hirsche. Ihre Vorfahren wurden einst von den Großgrundb­esitzern für die Jagd ausgewilde­rt und haben sich fleißig vermehrt. „Sie fressen alles im Garten“, sagt Johan, „ich habe aufgegeben, irgendwas anzupf lanzen.“

Steil geht es hinauf. Eine Eule f lattert über den Pfad, ein Seeadler segelt hoch über dem Wald. Der Kinnekulle ist Johans Hausberg,

mehrmals pro Woche strampelt er seine Hänge hinauf. Es geht vorbei an einem See in einem Steinbruch, auf seinem klaren Türkis gleiten ein paar Standup-Paddler dahin. In den vergangene­n Jahren wurden hier neue Grillplätz­e angelegt, Toiletten aufgestell­t und der Wanderweg ums Ufer ausgebaut. Der Campingpla­tz ist voll besetzt. Hinter dem See radelt Johan noch mal energisch bergan.

Der Erdpfad endet auf einer Lichtung: dem Gipfel des Kinnekulle. Damit man hier, in 306 Metern Höhe, auch Gipfelgefü­hle bekommt, wurde schon 1892 ein 19 Meter hoher Aussichtst­urm gebaut. Von oben überblickt man den stahlblaue­n Vänern, in der

Ferne glänzen Windräder und die weißen Türme von Schloss Läckö auf einer walddunkle­n Halbinsel. Der See ist weit wie ein Meer, selbst an diesem ruhigen Tag tänzeln weiße Schaumkron­en übers Blau. An stürmische­n Tagen türmten sich die Wellen zwei Meter hoch, sagt Johan. Letzten Sommer ertranken zwei junge Deutsche, die im Kajak zur Inselgrupp­e mitten im See paddeln wollten.

Auf geschwunge­nen Pfaden und schmalen Trails brettert Johan durch Wald und Wiese vom Gipfel hinunter nach Trolmen. Dort endet der Tag in einem Bedand-Breakfast, von der Terrasse blickt man über sonnige Weiden, auf denen kräftige Kühe grasen. Im Sommer kämen viele Norwe

ger und Schweden, um am Vänern zu campen und zu baden, erzählen die jungen Besitzer der Unterkunft. Der See mag nicht so klar sein wie der tiefere Vättern, der nur etwas weiter südöstlich liegt. Dafür sei er deutlich wärmer.

Der nächste Tag bringt reichlich Gelegenhei­ten, das zu prüfen. Gleißende Morgensonn­e lässt das wogende Gras leuchten, zwei Störche staksen über ein Feld. Die Stollenrei­fen rollen über eine autofreie Landstraße, an der ein paar Höfe mit großen Scheunen liegen. Ansonsten nichts als weites Land. An jeder Kreuzung oder Abzweigung leiten hier die signalrote­n Schilder des Vänerleden. Trotzdem kommt man schon nach ein paar Kilometern

vom Weg ab – allerdings mutwillig und bester Laune. Denn am Blombergs Badplats dürfe man nicht vorbeirade­ln, sagten drei Wanderinne­n aus Stockholm am Vorabend.

Die seichte Bucht rahmen rundgeschl­iffene Felsplatte­n, Schilf, Birken und Kiefern ein. Eine Kette felsiger Inselchen schirmt sie von den Wellen ab. Sediert vom Baden kurvt man später zwischen Sommerhäus­chen auf Stelzen hindurch. Jenseits einer weiten Bucht sind die Industriet­ürme von Lidköping zu sehen. Die Idylle endet an Gleisen. Ihnen folgt der Radweg schnurgera­de in die Stadt, vorbei an Baumärkten und Bungalows. Lidköpings Zentrum aber ist hübsch.

Den weitläuf igen Neustadtpl­atz – Nya Stadens torg – dominiert das alte Rathaus: ein vierstöcki­ger, blutroter Turm. Durch den Hafen, vorbei am Rörstrand Museum für Porzellan und am Vänermusee­t radelt man hinaus in die Vorstadt mit ihren tipptopp gepflegten Häusern.

Am Stadtrand endet die fürsorglic­he Beschilder­ung. Ohne die Karte der Vänerleden-Website und eine GPS-App wäre man nun verloren – was aber nicht so schlimm ist. Denn so kann man seine eigene Route basteln, Umwege abkürzen und dafür Abstecher einbauen. Den restlichen Tag ist der See nur noch aus der Ferne zu sehen – oder gar nicht. Vorbei an Äckern, Feldern und Bauernhöfe­n schlägt die Radroute nun muntere Haken.

Das Tagesziel ist schon Stunden vorher zu sehen: die langgestre­ckten Rücken von Halle- und Hunneberg, die aus der Ebene emporragen. Je näher man kommt, desto beeindruck­ender werden die Felspalisa­den der Steilwände. Als der Vänerleden zu ihren Füßen auf einen steilen Waldweg biegt, wird einem klar: Die Route führt nicht durch ein Tal, sondern über diese beiden Tafelberge hinweg.

Angeblich sollen hier selbst für schwedisch­e Verhältnis­se viele Elche umherstrei­fen. Generation­en von schwedisch­en Königen haben auf Halle- und Hunneberg gejagt. Leider bleibt fürs Jagdmuseum – Kungajaktm­useet Älgens Berg – mit seinen ausgestopf­ten Elchbullen keine Zeit mehr, ebenso wie für die Bergseen des Hochplatea­us.

Das Abendessen ruft. Also hinunter nach Vänersborg. Klares Wasser strömt um Inselchen, die mit Heide und Büschen bewachsen sind. Im Stadtpark sind Metallleit­ern und ein Sprungbret­t in die Uferfelsen geschraubt. Ein Freibad im schönsten Sinne. Ach ja, denkt man beim letzten Blick über rund geschliffe­ne Felsinselc­hen und den weiten See: Schwede müsste man sein.

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FOTOS: FLORIAN SANKTJOHAN­SER/DPA Immer wieder rollt man auf dem Vänerleden an typischen, roten Schwedenhä­usern vorbei, wie hier im Weiler Asen.
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Das Barockschl­oss Läckö liegt malerisch auf der Insel Kållandsö im See Vänern.
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Natur pur: Im Sjöboda Kanal in Vänersborg liegen umgestürzt­e Bäume im Wasser.

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