Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Trauer in der Türkei
Erdogan-Gegner protestieren gegen „Angriff des Staates auf das Volk“– Regierung verspricht Aufklärung
Eine Demonstrantin in Ankara verteilt am Sonntag Blumen an Polizisten (Foto:dpa). Bei einem Terroranschlag auf eine Friedenskundgebung waren am Samstag 95 Personen getötet worden. Oppositionelle forderten den Rücktritt von Präsident Erdogan.
ISTANBUL (dpa) - Fernsehsender blenden eine Trauerschleife ins Programm ein. Die Flaggen im Land wehen nach dem schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei auf Halbmast. Laut Regierung sind nach einem Angriff auf eine Friedensdemonstration am Samstag in Ankara rund 100 Tote zu beklagen. Die prokurdische Oppositionspartei HDP spricht gar von 122 Todesopfern. Nach Angaben des Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu war der Anschlag wahrscheinlich von zwei Selbstmordattentätern verübt worden.
Der Schmerz eint die Nation nicht, die gespalten ist in Gegner und Anhänger des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Am Sonntag versammeln sich viele Menschen in Ankara, um der Opfer zu gedenken. Sie skandieren: „Mörder, Erdogan“.
Drei Wochen vor Neuwahlen hat das Massaker die Spannungen im Land angeheizt. Aus Sicht der HDP galt ihr der Anschlag, zu dem sich niemand bekannte. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, nennt die Bluttat einen „Angriff des Staates auf das Volk“. Die HDP gehört zu den Organisationen, die zur Teilnahme an der Demonstration gegen die „gewalttätige Politik der AKP“am Samstag aufgerufen hatten. Die Oppositionspartei wirft Erdogan und seiner AKP vor, den Konflikt mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK zu schüren.
Erfolg der pro-kurdischen HDP
Das Kalkül nach Ansicht der Erdogan-Kritiker: Der Präsident steuert das Land ins Chaos. Bei der Wahl im Juni war die HDP als erste prokurdische Partei ins Parlament eingezogen. Die Ansage, einen Machtzuwachs Erdogans zu verhindern, sicherte ihr auch Wähler außerhalb der kurdisch geprägten Gebiete. Erdogans AKP verfehlte wegen des HDP-Erfolgs die absolute Mehrheit.
Nach erfolglosen Koalitionsverhandlungen rief der Präsident Neuwahlen für den 1. November aus. Nun muss er darauf hoffen, dass die Wähler sich im zunehmenden Chaos an die stabileren Zeiten unter einer AKP-Alleinregierung zurücksehnen.
Immer wieder wirft Erdogan der HDP vor, nur eine PKK-Marionette zu sein. Besonders im Licht des es- kalierenden Konflikts mit der PKK macht das die HDP für viele NichtKurden unwählbar. Ein westlicher Diplomat sagt: „Erdogan zündelt, aber das ist ihm egal. Ihm geht es um seine Macht, seinen Machterhalt.“
Demirtas glaubt den Beteuerungen Erdogans nicht, der verspricht, die Verantwortlichen für den Anschlag vom Samstag zur Rechenschaft zu ziehen. „Auch dieser Vorfall wird nicht aufgeklärt werden“, sagt Demirtas. Er wirft der Regierung vor, bei keinem der schweren Angriffe auf seine Partei und seine Anhänger in den vergangenen Monaten für Aufklärung gesorgt zu haben.
Zwei Tage vor der Wahl im Juni wurde ein tödlicher Anschlag auf eine HDP-Veranstaltung in der Kurden-Metropole Diyarbakir verübt. Im Juli riss ein Attentäter im südtürkischen Suruc 33 prokurdische Aktivisten mit in den Tod. Die Regierung machte beide Male die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich – die sich allerdings zu keinem der Anschläge bekannte.
Spekulation um Wahlabsage
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte nach dem Anschlag vom Samstag, bei den Urhebern könnte es sich um den IS oder um zwei linksterroristische Gruppen handeln – oder um die PKK. Ein PKK-Anschlag auf prokurdische Demonstranten? „Das ist Unsinn“, sagte ein HDP-Funktionär. Möglicherweise wolle Erdogan den Anschlag dafür nutzen, die Wahl am 1. November abzusagen. Alle Umfragen deuten nämlich darauf hin, dass die HDP wieder ins Parlament einzieht – und dass die AKP erneut die absolute Mehrheit verfehlt.
Die PKK teilte am Samstag mit, Angriffe ihrer Kämpfer auf den Staat vor der Wahl auszusetzen. Voraussetzung sei, „dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden“, heißt es in der Erklärung.
Nach dem verheerenden Terroranschlag in Ankara haben auch in mehreren deutschen Städten Tausende Kurden und Sympathisanten gegen den Terror demonstriert. Die größte Kundgebung wurde aus Stuttgart gemeldet, wo rund 5000 Menschen auf die Straße gingen. In Freiburg versammelten sich etwa 700 Demonstranten. „Sag nein zum Staatsterror“forderten 200 Teilnehmer in Karlsruhe.