Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Was Vorarlberger Bauen ausmacht
Der Vorarlberger Baustil hat sich mit seiner praktischen Vorgehensweise weltweit einen Namen gemacht
BREGENZ (sz) - Der Vorarlberger Baustil, mit viel Holz, Glas und natürlichen Materialien, erfreut sich seit den 1980er-Jahren wachsender Beliebtheit. Architekturbüros in Bregenz schießen aus dem Boden und können sich vor Praktikumsanfragen aus aller Welt kaum retten. Wie der Vorarlberger Stil entstand, wie er sich gegen den miefigen Nachkriegsgeist in der Architektur wandte und das kompakte, praktische Bauen mit Ästhetik verband, schildert unser Korrespondent auf der
BREGENZ - Steht Elmar Ludescher an der Fensterfront seines Architekten-Büros, hat er im Vordergrund den Bregenzer Hafen im Blick. Dahinter ist dann der ganze östliche Bodensee zu sehen. Eine Traumaussicht bietet das obere Stockwerk der örtlichen Post, einem repräsentativen Bau, der zu Zeiten von Kaiser Franz Joseph entstanden ist. Hier entwirft Ludescher zusammen mit seinem Kollegen Philip Lutz seine Baupläne. „Ein lässiges Büro“, meint der Mittvierziger, der ebenso lässig wirkt.
Er gehört noch zu den eher jüngeren Architekten der Vorarlberger Bauschule, einer inzwischen weltweit bekannten Stilrichtung. Man kann sich nun fragen: Große Architektur zwischen Bregenzer Wald, Dornbirn und Feldkirch? Eigentlich würde man so etwas eher in New York oder London verorten. Fehlanzeige. In Europa gilt das fernab von allen Metropolen gelegene Vorarlberg gegenwärtig laut Fachzeitschriften sogar als „Zentrum der Architektur“.
Gab es dort um 1980 herum gerade mal 30 Architektenbüros, sind es inzwischen über 150. Die großen darunter sind auch auf anderen Kontinenten vertreten, bauen in Fernost oder Südamerika. Reihenweise gibt es Auszeichnungen für die Vorarlberger. Das in Dornbirn ansässige Büro von Bernardo Bader hat 2013 für den Bau eines islamischen Friedhofs im dortigen Rheintal den Aga-KhanPreis für Architektur bekommen. Er gehört zu den am höchsten dotierten Preisen im Baugewerbe. Vorarlberg zählt inzwischen im Schnitt jährlich 30 000 Architektur-Touristen. Ausländische Studenten reißen sich um Praktika in den Architektenbüros. Was haben aber die Vorarlberger, das sie so attraktiv macht?
Nicht nur Gegenliebe
Das Büro von Ludescher und Lutz ist eines der kleineren im Lande. Mit einem starken Fernglas könnte man vom Fenster aus wohl quer über den Bodensee eines ihrer jüngst prämierten Werke sehen. Es steht hinter dem bayerischen Wasserburg in den Hügeln: ein Weingut, weitgehend aus Holz gebaut. Von vorne wirkt es wie eine abgeflachte, noch oben gerichtete Pfeilspitze. Vor die Fassade sind Latten geblendet. Dies gibt dem Gebäude eine Leichtigkeit. Den Juroren des Vorarlberger Holzpreises gefiel es so gut, dass es heuer zu den ausgezeichneten Werken gehört.
Das erst 2014 fertiggestellte Weingut hat bereits den Charakter einer Landmarke. Es fügt sich in Weinberge und Wald ein, als sei es schon immer da gewesen. An Stammtischen rund um Wasserburg stieß der Bau zwar nicht bei jedem auf Gegenliebe, aber doch auf viel wohlwollendes In- teresse. Ungewöhnlich in Runden, die moderne Architektur üblicherweise eher als Verbrechen am guten Geschmack begreifen. Vielleicht liegt das Wohlwollen darin, dass das Weingut nicht im Kontrast zur Umgebung steht.
Bauen mit der Landschaft
Gerade in Deutschland hatten sich Architekten jahrzehntelang darin gefallen, provokativ zu bauen. So entstanden schwere Komplexe im Altstadt-geprägten Umfeld. Der Gegensatz war das Ziel. Dies lässt sich beispielsweise in Ulm zwischen Münster und altem Rathaus gut studieren. Die Vorarlberger Bauschule denkt nicht in Kontrasten. „Wir bauen in der Landschaft und mit der Landschaft“, sagt Ludescher. Er zeigt Pläne eines Bergrestaurants, welches das Büro bei Innsbruck in Tirol plant. Das Gebäude scheint in den Hang zu schlüpfen. „Ein ganz indivi- dueller Ansatz, der dem Ort gerecht wird“, erläutert Ludescher.
Offenbar soll die Form den Gegebenheiten folgen. Noch etwas fällt aber auf: die Orientierung am Praktischen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sollte man meinen. Zumal die legendäre, von 1919 bis 1933 in Deutschland bestehende BauhausSchule bereits stark darauf beharrte. Deren Vertreter sahen sich als Kunsthandwerker. Ähnlich tun dies die heutigen Vorarlberger Architekten. Einen Starkult gibt es nicht. Als abgehobener Künstler zu gelten, ist verpönt. Dies hat mit der Erfahrung zu tun, dass dieser Architekten-Typ dazu neigt, die Nutzung eines Bauwerks als sekundär abzutun. Dann gibt es in einem Restaurant keine Abfalleimer, weil sie das Raumbild stören. Auf nötigen Sonnenschutz an Glasfronten wird verzichtet, weil sonst die Fassade nicht zur Geltung kommt.
„Dies ist nicht unser Weg“, meint Jörg Meißner vom 1997 gegründeten Vorarlberger Architektur Institut. „Unsere Architektur wird vom Nutzen her gedacht.“Meißner bringt ein Beispiel, das einem selbst vor Ort nicht unbedingt ins Auge fällt. So werden nach seinen Worten in Vorarlberg nur noch Carports oder Tiefgaragen gebaut. Traditionelle Garagen seien dagegen verpönt. Sie brächten für ihren Baupreis keinen entsprechenden Mehrwert.
Um die heutige Vorarlberger Architektur besser zu verstehen, muss man jedoch zu ihren Anfängen zurückgehen – in die 1960er-Jahre. Eine Gruppe junger Architekten wandte sich gegen den Nachkriegsgeist des „Weiter so“, gegen provinzielle Beschränktheit. Als einer der führenden Köpfe etablierte sich der 1933 in Bregenz geborene Hans Purin. Er war Maurer und Architekt. Ihm ging es darum, sparsam, einfach und handwerklich zu bauen. Auf dem durch Erbteilungen zersplitterten Vorarlberger Grund bot sich dies vor allem im privaten Raum an. Zumal die Durchschnittsbevölkerung damals nur über beschränkte Finanzmittel verfügte.
Hauptmaterial Holz
Purin und Gleichgesinnte folgten der Idee des traditionellen Hausbaus im Bregenzer Wald: kompakt, praktisch. Beim Material griffen sie vor allem zu Holz. Es war zwar für ihren Architekturstil keine natürliche Voraussetzung. Wegen der vielen Bergwälder dient Holz aber in Vorarlberg als üblicher Baustoff, leicht und günstig zu bekommen. Dies hatte in den folgenden Jahrzehnten weitere Folgen. Es entstanden innovative Holzbaukonzepte, weiterentwickelte Zimmererstechniken. Heutzutage arbeiten die Vorarlberger gerne mit vorgefertigten Holzbauteilen. Sie liefern fer- tig gezimmerte Module auf den Baustellen ab. Dies geht schnell und kostengünstig. Man traute sich sogar an den Bau von Holzhochhäusern heran. 2012 entstand in Dornbirn innerhalb von zwölf Monaten der achtstöckige Life Cycle Tower.
Er war das erste Holzhochhaus Österreichs, 27 Meter in die Höhe ragend. An ihm lässt sich noch ein Aspekt der Vorarlberger Architektur festmachen: eine ökologische Bauweise. So erfüllt der Life Cycle Tower Passivhausstandard. Im Zweifelsfall scheuen sich die Architekten auch nicht, eine ausgefuchste Technik für Heiz- und Lüftungsanlage zu installieren. Hinter einer möglicherweise mit traditioneller Holzbauweise erstellten Wand können sich modernste Installationen verbergen.
Rasanter Aufschwung
Ohne Anfeindungen ist die Entwicklung jedoch nicht vorangeschritten. Ursprünglich galten Purin und die anderen Pioniere als Teil einer Alternativszene, linken Lebenseinstellungen verdächtig. Ihre Architektur wurde zum Schubladenbau und Holzkisten-Stil abgewertet. Manches Haus erinnerte die Leute an bloße Würfel. Sie bauten dann lieber spießige Einfamilienhäuser im berüchtigten Tiroler Alpenhausstil, bekannt selbst aus norddeutschen Neubausiedlungen.
Dass die neue Bauweise dennoch den Durchbruch schaffte, hat dann neben einem gesellschaftlichen Umdenken auch einen wirtschaftlichen Hintergrund. Nachdem Österreich 1995 der EU beigetreten war, erlebte Vorarlberg einen rasanten ökonomischen Aufschwung. Plötzlich war Geld in vielen Händen. Es folgte ein bis heute andauernder Bauboom – gut zu besichtigen etwa entlang der Bregenzerwald-Straße in Alberschwende. Die Formgebung der Architekten wurde in Verbindung mit dem Holzbau plötzlich auch von weiten Bevölkerungskreisen als Fortführung örtlicher Traditionen begriffen.
Einzigartiges Forsthaus
Als etwa Thomas Fritsch 2012 begann, seinen über die Region hinaus bekannten Gasthof am Pfänderhang bei Bregenz zu einem Wellness-Hotel im neuen Architekturstil umzubauen, sagte er: „Tradition soll schon dabei sein. Ich will aber im dritten Jahrtausend nicht mehr so bauen wie vor 200 Jahren.“
Dabei sind die Formen seines Hotels noch sehr klassisch. Anders bei einem eben fertiggestellten Forsthaus bei Tettnang im Bodenseekreis. Hier zeichnet wieder das Bregenzer Architekten-Duo Ludescher und Lutz verantwortlich. Der reine, schindelgedeckte Holzbau mit seinem hochgezogenen Kamin wirkt wie eine Hänsel-und-Gretel-Hütte im Märchenwald. Sicher ein einzigartiges Forsthaus.