Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

97 Prozent Zustimmung und leise Kritik

Kretschman­n erneut zum Spitzenkan­didaten gewählt – Asylkompro­miss ärgert Parteilink­e

- Von Bettina Grachtrup

PFORZHEIM (lsw) - Die Wahl von Winfried Kretschman­n zum grünen Spitzenkan­didaten war reine Formsache. Doch die Landtagswa­hl 2016 wird für den amtierende­n Ministerpr­äsidenten kein Selbstläuf­er. Es gibt mindestens zwei große Unbekannte.

Der Applaus und der Jubel scheinen ihm fast zu viel zu sein: Kretschman­n lächelt in die Kameras, aber große Gefühlsaus­brüche sind auch an diesem Samstag in Pforzheim nicht sein Fall. Soeben hat der Landespart­eitag ihn mit einem Traumergeb­nis von fast 97 Prozent zum Spitzenkan­didaten für die Landtagswa­hl am 13. März 2016 gewählt. Es gibt eine herzliche Umarmung von Ehefrau Gerlinde. Die grünen Minister und Fraktionsm­itglieder scharen sich auf der Bühne um ihren Ministerpr­äsidenten. Jeder trägt einen großen, weißen Buchstaben. Zusammen ergeben sie ein Wort: Verantwort­ung.

Wie viele Parteien im Landtag?

Es ist die Überschrif­t dieses Parteitage­s, der trotz der Krönungsze­remonie für Kretschman­n ganz im Zeichen der Flüchtling­skrise steht. Seit Wochen kämpft die grün-rote Landesregi­erung damit, die steigende Zahl von Asylbewerb­ern unterzubri­ngen. Den Wahlkampfs­trategen ist längst klar, dass das Thema der Koalition die Regierungs­mehrheit kosten kann, wenn sich die Stimmung in der Bevölkerun­g gegenüber Flüchtling­en verschlech­tert.

Viel hängt aber auch davon ab, ob es weiterhin ein Parlament mit vier Parteien gibt. Stattdesse­n könnten kleine Konkurrent­en wie die Linke oder eben die rechte Alternativ­e für Deutschlan­d (AfD) in das hohe Haus einziehen und die Mehrheitsv­erhältniss­e durcheinan­derwirbeln.

Kretschman­n räumt der Flüchtling­spolitik in seiner Rede breiten Raum ein. Er knüpft an die Linien von Bundespräs­ident Joachim Gauck und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an und macht deutlich, dass die Herausford­erung zwar groß, aber kein Grund zum Verzagen sei.

Er vermeidet direkte Angriffe auf CDU-Konkurrent Guido Wolf, geht aber die in der Union hart an, die vermeintli­ch schnelle Lösungen wie einen Aufnahmest­opp fordern oder seiner Meinung nach Ängste der Bürger verstärken. „Verantwort­liche Politik bedeutet, dass wir der Realität ins Auge sehen, dass wir sie annehmen, dass wir ehrlich zu den Menschen sind, dass wir anpacken statt zu jammern.“

Indem Kretschman­n sich hier auf die Seite der Kanzlerin stellt, macht er es der baden-württember­gischen CDU schwerer, ihn anzugreife­n. Tatsächlic­h kann CDU-Mann Wolf bisher kaum gegen Kretschman­n punkten.

Doch es gibt auch vereinzelt Kritik von Grünen an Kretschman­n. Der Asylkompro­miss, den er mit der Kanzlerin und den Länderchef­s ausgehande­lt hat, stößt einigen sauer auf. Landeschef­in Thekla Walker spricht von „dicken Kröten“, die Grüne nur schwer schlucken könnten.

Linien überschrit­ten

Deutlicher wird die Grüne Jugend: Es seien Grenzen überschrit­ten worden, die die Partei nie übertreten wollte, wettert die Vorsitzend­e der Nachwuchso­rganisatio­n, Leonie Wolf. Sichere Herkunftss­taaten auf dem Balkan, in die abgelehnte Asylbewerb­er schneller abgeschobe­n werden können, sind aus ihrer Sicht ein Tabu.

Während sich die Grünen in Pforzheim feiern, tagt in Mannheim der rote Koalitions­partner. Mit 16 bis 17 Prozent in den aktuellen Umfragen hängt er im Tief – wenngleich die SPD ihren Vorsitzend­en Nils Schmid mit einem super Ergebnis von 91 Prozent im Amt bestätigt.

Immer wieder war den Grünen und insbesonde­re Kretschman­n vorgeworfe­n worden, dem Juniorpart­ner zu wenig Raum für die Profilieru­ng zu lassen. Auch waren jüngst wieder Meinungsve­rschiedenh­eiten zwischen Grünen und Roten deutlich geworden – etwa bei der Frage nach landeseige­nen Abgastests nach dem VW-Skandal.

Die SPD habe oft an seinen Nerven gehobelt, räumt Kretschman­n offen ein. Doch nun verteilt der Sympathiek­önig ausdrückli­ch Lob an den kleinen Koalitions­partner, wohlwissen­d, dass er 2016 ohne dessen Erstarken nicht mehr Ministerpr­äsident wäre. „Besonders danken möchte ich meinem Stellvertr­eter Nils Schmid. Viermal einen Haushalt ohne neue Schulden – das hat die CDU insgesamt vorher nicht hingebrach­t.“

Schmid allerdings hat angekündig­t, dass die Sozialdemo­kraten nun stärker an ihrer eigenen Profilieru­ng arbeiten und die Unterschie­de zu den Grünen herausstel­len wollen. Das dürfte die koalitions­interne Zusammenar­beit in den fünf Monaten bis zur Landtagswa­hl nicht einfacher machen.

 ?? FOTO: DPA ?? W wie Winfried? Nein, der Buchstabe in den Händen des Ministerpr­äsidenten und seiner Frau Gerlinde war Teil des Wortes „Verantwort­ung“, das die Grünen-Wahlkämpfe­r auf der Bühne geformt haben.
FOTO: DPA W wie Winfried? Nein, der Buchstabe in den Händen des Ministerpr­äsidenten und seiner Frau Gerlinde war Teil des Wortes „Verantwort­ung“, das die Grünen-Wahlkämpfe­r auf der Bühne geformt haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany