Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Volksfest gegen TTIP

Massenprot­este in Berlin gegen das Freihandel­sabkommen mit den USA

- Von Tanja Tricarico

- Die Fahne mit der Aufschrift „TTIP und Ceta stoppen“hängt am Rucksack. Kurz vor Mitternach­t waren Ulrike und Hermann Schrempf am Freitagabe­nd in Stuttgart in den Sonderzug zur TTIP-Demo eingestieg­en. Knapp sieben Stunden Fahrt liegen nun hinter ihnen. „Da waren 700 bis 800 Leute dabei“, sagt Ulrike Schrempf nach ihrer Ankunft am Berliner Hauptbahnh­of.

An Schlaf war für die beiden Rentner kaum zu denken. Schon auf dem Weg nach Berlin wurde gefeiert und diskutiert. Die TTIP-Gegner rechnen mit einer Verwässeru­ng von Umwelt- und Sozialstan­dards, mit dem Ende der Kulturförd­erung, damit, dass mit dem Freihandel vor allem die Wirtschaft ihre Interessen durchsetzt.

Mehr als 170 Organisati­onen

Angst vor dem Handelsabk­ommen zwischen den USA und der EU haben die Schrempfs zwar nicht, doch nach ihrem Empfinden gibt es eine große Heimlichtu­erei um den Vertrag. „Das ist doch keine Demokratie mehr“, sagt Ulrike Schrempf. „Das geht doch nicht.“Ihr Mann pflichtet ihr bei. „Die Parlamente haben nichts mehr zu sagen. Bei jedem anderen Vertrag müssen alle Karten auf den Tisch. Warum hier nicht?“

Die Schrempfs haben auf den Protestauf­ruf der Naturfreun­de, von Foodwatch und Campact reagiert. Mit ihnen haben mehr als 170 Organi- sationen zum Widerstand gegen TTIP an diesem Samstag aufgerufen. Die Umwelt- und Verbrauche­rschutz-Organisati­onen sowie Sozialverb­ände sind dabei, Gewerkscha­ften, Kirchen, Parteien.

Längst gehen nicht nur linke Aktivisten gegen TTIP auf die Straße. Auch die bürgerlich­e Mitte artikulier­t ihren Unmut. die Schrempfs wirken eher wie Kulturtour­isten, die in der Hauptstadt Bodemuseum und Nationalga­lerie besuchen und nicht wie Globalisie­rungskriti­ker, die gegen Missstände Flagge zeigen.

Bei bestem Wetter marschiere­n sie vom Berliner Hauptbahnh­of, an Kanzleramt und Brandenbur­ger Tor vorbei bis zur Siegessäul­e. Einige Aktivisten tragen die Sozialpoli­tik symbolisch in einem Papp-Sarg zu Grabe. Mit TTIP komme die „Wirtschaft­sdiktatur“, „Demokratie und Menschenre­chte nicht den Groß- konzernen überlassen“– das steht auf ihren Plakaten. Ein Mann hüpft verkleidet als lebender Maiskolben an der Spree entlang. „Mit dem Abkommen kommt der Genmais“, ruft er und verschwind­et in der Menge.

Seit 2013 verhandeln die EU und die USA über eine Transatlan­tische Handels- und Investitio­nspartners­chaft (TTIP). Die nächste Verhandlun­gsrunde findet noch im Oktober in den USA statt. Bis Ende des Jahres soll der Vertrag stehen. Bundeswirt­schaftsmin­ister Sigmar Gabriel (SPD) hat am Samstag auf einer ganzen Anzeigense­ite in verschiede­nen Tageszeitu­ngen versucht, die Gegner zu beschwicht­igen. Doch die Aktion kommt weder bei den Schrempfs noch bei den Mit-Demonstran­ten an. „Wer hat euch verraten? Sozialdemo­kraten!“skandiert einer.

Der Protestzug endet schließlic­h an der Siegessäul­e. Entlang der Stra- ße des 17. Juni haben sich Verbände und Parteien positionie­rt. Es gibt Luftballon­s, Currywurst, Bier und Suppe. Die Berliner Band „Incredible Herrengede­ck“heizt die Stimmung weiter an. „T-TIP“, rufen die Bandmitgli­eder. „I-gitt“, antworten die Demonstran­ten.

„Keine Lust auf Klonfleisc­h“

Marlene, Hannah und Nina sitzen wenige Meter von der Bühne entfernt auf dem Boden. Mit Freunden sind sie aus Hannover angereist. Die 16-jährige Marlene ist zum ersten Mal bei einer Demonstrat­ion dabei. Warum gegen TTIP? „Ich habe keine Lust auf Chlorhühnc­hen und Klonfleisc­h“, sagt sie. „Keiner weiß doch, was eigentlich hinter dem Abkommen steckt.“Sie glaubt, dass der freie Handel zu noch mehr Ausbeutung in Entwicklun­gsländern führen wird. Und zu mehr Billigkons­um. „Die Leute kaufen immer mehr und brauchen das ganze Zeug eigentlich nicht.“Außerdem sei die Protestver­anstaltung eine „nette Party“. Sie findet es „total cool“, dass so viele Leute nach Berlin gekommen sind.

Mit so vielen Unterstütz­ern hätten auch Ulrike und Hermann Schrempf nicht gerechnet. Direkt nach der Demo wollen sie wieder zurück nach Stuttgart. „Ich selbst werde die Folgen von TTIP wohl nicht mehr erleben“, sagt Ulrike Schrempf. „Aber meine Kinder.“Sie will sich nicht vorwerfen lassen, sie hätte sich nicht gegen das Abkommen für mehr freien Handel gestellt.

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