Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Türkei-Konflikte in Deutschland möglich
Vorsitzender der Innenministerkonferenz warnt - Merkel-Reise nach Ankara geplant
BERLIN (dpa)- Nach dem verheerenden Terroranschlag in Ankara hat der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland vor Gewalt zwischen Kurden und nationalistischen Türken in der Bundesrepublik gewarnt. „Ich befürchte, dass die Eskalation in der Türkei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen in Deutschland führt“, sagte Gökay Sofuoglu am Montag. Es gebe auf türkischer und auf kurdischer Seite gewaltbereite Gruppierungen.
Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD), warnte davor, „diesen Konflikt nach Deutschland zu tragen“. Der rheinland-pfälzische Ressortchef teilte mit: „Unsere Polizei wird mit aller Entschiedenheit gegen jegliche Art der Gewalt vorgehen.“
Die Ermittlungen zu dem Anschlag in Ankara konzentrieren sich nach Angaben von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Davutoglu nannte am Montag im türkischen Sender NTV aber erneut auch die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK und die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C als mögliche Urheber der Tat. Ein Regierungsver- treter sagte, die Sicherheitsvorkehrungen im Land seien nach dem Anschlag verschärft worden.
Bei dem Anschlag am Samstag wurden nach offiziellen Angaben mindestens 97 Menschen getötet und mehr als 500 verletzt. Die türkische Luftwaffe flog unterdessen erneut Angriffe gegen die PKK. Bei einem Luftschlag in der südosttürkischen Provinz Hakkari seien 17 PKKKämpfer getötet worden, teilte das Militär mit.
Die PKK hatte am Samstag mitgeteilt, bis zu den Neuwahlen am 1. November auf Anschläge auf den Staat zu verzichten. Bedingung sei, „dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will am Sonntag in Ankara mit Erdogan und Davutoglu zusammenkommen. Als Themen für ihre Gespräche nannte Regierungssprecher Steffen Seibert den Konflikt in Syrien, die Flüchtlingskrise und den Kampf gegen Terrorismus. In der EU ist ein Streit darüber entbrannt, wie weit man der türkischen Regierung entgegenkommen soll.
BERLIN - Nach dem Massaker auf den Straßen Ankaras droht die Situation in der Türkei vor der für 1. November angesetzten Wahl weiter zu eskalieren. Hierzulande wachsen die Sorgen, dass der Konflikt zwischen Türken und Kurden bis nach Deutschland getragen werden könne. Erinnerungen werden wach an 1994, als Deutschland zum Schauplatz brutaler Auseinandersetzungen bei Kurden-Demonstrationen wurde: blockierte Autobahnen, Frauen und Männer, die sich aus Protest mit Benzin übergossen und anzündeten. Die in Deutschland verbotene kurdische Arbeiterpartei galt als Drahtzieherin der Aktionen.
Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) schlägt Alarm. „Aufgrund der Entwicklung in Syrien und in der Türkei muss damit gerechnet werden, dass es auch hierzulande mehr Gewalt geben könnte“, erklärte Gewerkschaftschef Rainer Wendt gestern im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „In der Vergangenheit haben Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden in der Türkei auch immer zu Konflikten dieser Gruppen in Deutschland geführt.“
Rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben in Deutschland. Unter ihnen herrscht offenbar erhebliche Unruhe. Die Türkische Gemeinde warnt nach dem verheerenden Bombenanschlag von Ankara vor einer Zuspitzung auch in Deutschland. „Als Erdogan Staatspräsident wurde, hat diese Polarisierung in Deutschland angefangen“, mahnt Gökay Sofuoglu, der Chef der Türkischen Gemeinde, gestern. „Sobald in der Türkei etwas passiert, gehen die Leute auf die Straße.“Und so wie die Stimmung jetzt gerade in der Türkei sei, befürchte er „eine weitere Eskalation auch hier“.
Auch Spontan-Kundgebungen, die dann in Gewalt enden könnten, hält Sofuoglu für denkbar. „Ich beobachte, dass in den sozialen Medien sehr schnell von allen Seiten zu De- monstrationen aufgerufen wird, die gar nicht genehmigt sind.“Sowohl auf türkischer als auch kurdischer Seite würden sich verschiedene Gruppierungen entwickeln. In mehreren deutschen Städten hatten Tausende Kurden und Sympathisanten am Wochenende gegen den Terror in der Türkei demonstriert.
Enger Austausch der Behörden
Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums erklärte, zunächst seien jetzt die türkischen Behörden um Aufklärung bemüht. Es bestehe ein enger Austausch auch mit deutschen Behörden. Zuletzt seien in Deutschland Demonstrationen „in diesem Themenspektrum friedlich verlaufen“. Aber es sei „ein hoher Grad an Emotionalisierung“zu beobachten. Die Behörden würden die Lage „sehr aufmerksam“beobachten, so das Bundesinnenministerium.
Ähnlich äußert sich die nordrhein-westfälische Landesregierung. „Die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen beobachten die Entwicklung in der Türkei nach den Anschlägen von Ankara sehr genau. Sie sind wachsam und sensibilisiert“, so ein Sprecher des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen. Bislang seien die Demonstrationen von Kurden friedlich und störungsfrei: „Es liegen derzeit keine Hinweise vor, die auf ein gezielt unfriedliches Handeln hindeuten.“
Angela Merkel hat die Terroranschläge von Ankara noch einmal als einen „besonders feigen Akt“verurteilt. Sie will am Sonntag in der Türkei mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über die Lage nach dem Massaker auf den Straßen Ankaras beraten, den Kampf gegen den Islamischen Staat und die Flüchtlingskrise reden.
Eine schwierige Mission. Seit Langem ist es um das deutsch-türkische Verhältnis nicht gut bestellt. Ankara sucht nun Mitstreiter für die Einrichtung einer Pufferzone entlang der syrischen Grenze, in der syrische Flüchtlinge bleiben können. Das Problem: Wer schützt diese Zone und wie?