Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Blick von Oberschwaben über den großen Teich
John F. Kennedy, Martin Luther King und die schwarze Bürgerrechtsbewegung – Wie die 60er-Jahre in den USA die „Schwäbische Zeitung“prägten
Der Zeitungsleser der 60erJahre hätte die Welt nicht mehr verstanden ob dieser Debatten. Darf der „Negerkönig“in Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf so heißen? Nein, darf er nicht – auch wenn die keineswegs des Rassismus verdächtige Autorin ihn so genannt hat. Jetzt heißt er eben „Südseekönig“. „Politisch korrekt“müssen Begriffe heutzutage sein – und über die Frage, ob sie dieses Kriterium erfül- len, wird erbittert gestritten, vor allem in den sozialen Netzwerken. Soziale was?, fragt sich da der 60er-Jahre-Mensch.
Zeitsprung: „Aufstand der Neger“, lautete am 16. August 1965 der Titel eines Leitartikels von Wolf Schneider auf der ersten Seite der „Schwäbischen Zeitung“. Darunter folgt in einer Länge, die man heutzutage dem Leser nicht mehr zumuten will, eine kluge Analyse der Lebensumstände der schwarzen Bevölkerung in den USA, die zu den schlimmen Rassenunruhen, dieses Mal in Los Angeles, geführt haben. „Wo immer Neger randalieren, muß man ihnen, wenn man fair sein will, eines zugutehalten. Die Gleichberechtigung, die sie juristisch erreicht haben, ist in der Praxis keineswegs verwirklicht“, schreibt Wolf. Und weiter: „So sind in 19 der 50 Bundesstaaten Ehen zwischen Weißen und Farbigen verboten. Die Neger haben Grund, sich noch immer benachteiligt zu fühlen.“Rassismus in seinem Denken, kann man dem Autor wohl kaum unterstellen, aber in seiner Sprache – zumindest nach heutigem Empfinden. Aber was hat es dann mit der Annahme auf sich, dass Sprache Denken sei? Offensichtlich muss man dabei auch die Zeitumstände unter die Lupe nehmen.
Und die waren so während der 60er-Jahre in den USA: Die kurze Präsidentschaft des jungen demokratischen Hoffnungsträgers und Charmeurs John F. Kennedy, die Kubakrise, in der die Welt knapp am Atomkrieg vorbeischlidderte, Martin Luther Kings Jahrhundertrede „I have a Dream“, die Attentate auf Kennedy und King – und natürlich der Vietnamkrieg, der die jungen Protestbewegungen in den USA zum Teil vereinigte. Schwarze und Weiße trafen sich in der Friedensbewegung, um gegen die Politik in Washington zu demonstrieren. Radikalere „Neger“wandten sich von King ab und der „Black-Power-Bewegung“des 1965 ermordeten Malcolm X zu. Politik im Zeitraffer, so erscheint diese Zeit aus der Jetzt-Perspektive. Und was damals ins Rollen kam, auch die Beat-, Rock- und Hippiebewegung, wirkt bis heute nach. Viele, die Ende der 60er noch nicht einmal geboren waren, schwärmen vom Sound dieser Zeit – von Größen wie Jimi Hendrix oder The Doors.
Über all diese Ereignisse wurde in der „Schwäbischen Zeitung“der 60er-Jahre ausführlich berichtet. Den Vereinigten Staaten, jener Macht, die den Deutschen den Wiederaufstieg zur Wirtschaftsmacht ermöglicht hatten, räumte man in Oberschwaben breiten Raum ein. Von Provinzialität so gesehen keine Spur. Den Aufstieg des demokratischen Kandidaten John F. Kennedy zum Präsidenten begleitete die „Schwäbische Zeitung“von Anfang an mit Sympathie. „Seit Jahren ist der ,Appeal‘ seines freundlichen Jungengesichts vor allem bei den weiblichen Wählern allgemein anerkannter Vorteil. Kennedys politische Aktivität hat jedoch gleichzeitig niemals Zweifel daran gelassen, daß er mehr ist als ein schöner Mann. Er hat sich stets als aktiver, zielbewußter Politiker erwiesen“, heißt es in einem Bericht vom 7. April 1960 über die Präsidentschafts-Vorwahlen.
Und an anderer Stelle, in einem Korrespondentenartikel mit dem Namenskürzel WG aus Washington: „Er wollte wissen. Er hörte zu. Das ist mehr, als man von deren berühmten Persönlichkeiten sagen kann. Er würde ein großartiger Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn er gewählt würde.“Als der Präsident nach knapp drei Jahren im Amt in Texas ermordet wurde, war die Trauer groß: Am 23. November 1963 war die Seite 1 der „Schwäbischen Zeitung“und eine Politikseite (über einer „Sunil“-Anzeige – auch das gab es damals schon) dem erschossenen Präsidenten gewidmet.
Viereinhalb Jahre später fiel Friedensnobelpreisträger Martin Luther King, auch er eine Ikone der 60er- Jahre und wie Mahatma Gandhi in Indien Anführer eines gewaltlosen Kampfes für mehr Bürgerrechte, den Schüssen eines Attentäters zum Opfer. Der langjährige Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, Chrysostomus Zodel, widmete ihm einen Leitartikel in der Ausgabe vom 6. April 1968, in dem er ihn einen „Märtyrer für die Neger Amerikas“nannte, der „im Glauben an eine helle Zukunft mit gleichen Rechten“für seine Leidensgenossen gestorben sei. Mehrfach bezeichnete er King als „Negerführer“und schreibt die „Neger“, wenn er die schwarze Bevölkerung in den USA meint.
Nun ist ja überliefert, dass die Linie der „Schwäbischen Zeitung“unter Zodel etwas konservativer war als heutzutage, aber ein Rassist war der Katholik keineswegs. Er hat einfach die damals gebräuchlichen – und heute noch bekannten Bezeichnungen übernommen. Es sollte noch eine Weile dauern, bis die negative Konnotation des Wortes ausdrücklich hervorgehoben wurde. Erst im Duden von 1999 erhielt „Neger“den Zusatz, wird „meist als abwertend“empfunden, von 2004 an wurde das Wort als „diskriminierend“gekennzeichnet. Vielleicht wird es ja eines Tages ganz aus dem Sprachgebrauch und den Lexika verschwinden, das wäre kein Schaden. Denn es wäre ein Zeichen dafür, dass Rassismus nicht nur von politisch korrekten Sprachhütern geächtet wird, sondern auch aus den Köpfen ganz normaler Sprecher verschwunden ist.