Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Musikalische Sternstunde
Fazil Say und Gábor Boldoczki spielen beim Bodenseefestival in Weingarten
- Mit dem Motto des diesjährigen Bodenseefestivals hatte das Konzertprogramm der Württembergischen Philharmonie Reutlingen in Weingarten kaum zu tun. „Variations on America“bietet das Festival bei zahlreichen Veranstaltungen rund um das Schwäbische Meer. Bei diesem Gastspiel im Kultur- und Kongresszentrum gab es jedoch nur einen kurzen Beitrag aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der sich bei genauerem Hinhören zudem eher europäisch ausnahm. Die Hauptwerke des Abends stammten von Komponisten aus der Türkei, Österreich und der ehemaligen Sowjetunion.
Als typisch amerikanisch kann man jedenfalls Samuel Barbers beliebtes Adagio für Streichorchester nicht bezeichnen, mit dem das Konzert begann. Barber (1910-1981) war zwar ein US-Komponist, strebte aber weniger als viele Kollegen aus seinem Land nach Abgrenzung von der europäischen Kunstmusiktradition. Ältere und jüngere Zeitgenossen wie Charles Ives, Henry Cowell, Aaron Copland, Leonard Bernstein oder gar der nur zwei Jahre nach Barber geborene Avantgardist John Cage haben wesentlich mehr zum „Soundtrack“spezifisch nordamerikanischer Kultur beigetragen.
Gerade jenes Adagio bleibt ganz im Rahmen eines spätromantischen, aus der Alten Welt importierten Idioms, auch wenn es mittlerweile zur inoffiziellen Trauerhymne der USA avancierte und in zahlreichen Filmen Verwendung fand. Ähnlich wie das berühmte Adagietto aus Gustav Mahlers Fünfter hat sich Barbers Adagio von seiner ursprünglichen Funktion als langsamer Satz des Streichquartetts op. 11 längst zum Hit verselbstständigt. Der japanische Dirigent Norichika Iimori leitete die emotionsstarke Eigenbearbeitung Barbers in Weingarten mit ausladenden Bewegungen.
Den Solopart seines Trompetenkonzerts op. 31 hat der türkische Komponist Fazil Say dem ungarischen Virtuosen Gábor Boldoczki quasi auf das Instrument geschrieben. Die Partitur ist 2010 für die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern entstanden. Boldoczki hat das ihm gewidmete Werk dort aus der Taufe gehoben. So erwies er sich bei der Wiedergabe mit der Württembergischen Philharmonie als idealer Interpret der drei Sätze, die von Iimori umsichtig und mit klarer Zeichengebung dirigiert wurden.
Reizvolle rhythmische Konstellationen weckten Assoziationen an Janitscharenmusik und Jazz. Boldoczki begeisterte mit riskanten Intervallsprüngen, rasanten Tonrepetitionen, schmelzenden Kantilenen und einer furiosen Kadenz, die wirkungsvoll den Wiedereintritt des Orchesterparts herbeiführte. Ein frischer Geist durchwehte den groovigen Kopfsatz. Grandios wurden die Staccato-Impulse des Mittelsatzes in Fünfergruppen gesteigert. Melancholie verbreiteten die Variationen über ein türkisches Volkslied beim Finalsatz.
Seelenverwandtschaft mit Mozart
Dass er auch ein phänomenaler Pianist ist, hat Fazil Say bereits vor drei Jahren als Artist in Residence beim Bodenseefestival bewiesen. Einmal mehr demonstrierte er sein Ausnahmetalent bei Wolfgang A. Mozarts Klavierkonzert A-Dur (KV 414) und bescherte eine Sternstunde konzentriertester Versenkung in die Musik. Wie er hier individuelle Kostbarkeiten in zeittypischer Formelsprache aufspürte und in dynamisch wie agogisch delikatem Spiel veredelte, offenbarte tiefste Seelenverwandtschaft mit dem Komponisten.
Technische Brillanz, Spiellaune und souveräne Interaktion von Solisten und Orchester zeichnete die fulminante Darbietung von Dmitri Schostakowitschs erstem Klavierkonzert c-Moll mit zusätzlichem Trompetenpart aus. Say und Boldoczki meisterten ihre schwierigen Aufgaben mit Bravour. Perfekt gelang die knifflige Verzahnung der Dialogbeiträge. Das Publikum quittierte die packende Interpretation mit tosendem Applaus und wurde mit einem anmutigen Walzer-Arrangement für Klavier, Trompete und Orchester in die laue Nacht entlassen.