Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Im Schatten eines Atomkraftwerks
Die Schweizer Nuklearpolitik belastet trotz der jüngsten Energiewende die deutsche Seite des Hochrheins
- Langsam fällt Schatten auf das Gelände des Tennisclubs von Dogern. Eigentlich dürfte dies nicht sein – weder vom Wetter noch von der Tageszeit her. Es ist später Morgen, ein blauer Himmel spannt sich über die kleine badische Gemeinde im Hochrheintal. Die allesamt älteren Racket-Schwinger auf den Spielfeldern lässt das düstere Phänomen kalt. Sie kennen es seit Jahrzehnten. Nur als Fremder sucht man verwirrt nach der Schattenursache – bis der Blick nach Süden über den Fluss hinweg in die Schweiz wandert. Dort zieht sich eine Wasserdampffahne weit in die Höhe und blockiert das Sonnenlicht. Verantwortlich dafür ist der gigantische Kühlturm des Atomkraftwerks Leibstadt. Die Eidgenossen haben das Werk von 1974 bis 1984 direkt an die Grenze gebaut. „Wir sind die Anlage einerseits gewohnt. Aber sie beeinträchtigt uns schon – vor allem wenn man überlegt, um was für eine problematische Energieform es dort geht“, meint der Vereinsvorsitzende Dietmar Tröndle.
Ein langer Schatten
Sein Club ist der letzte deutsche Vorposten, dann kommt der Rheindamm, die Grenze im Fluss und das Kraftwerk mit dem jüngsten Reaktor der Schweiz. Beim lockeren Gespräch bietet es sich natürlich an, erst einmal über den großen Schatten zu reden. „Zwei Stunden kann er schon bleiben“, sagt Tröndle. Die Gemeinde hat vor Jahren ausrechnen lassen, wie viel Sonne ihr letztlich übers Jahr fehlt. Das Ergebnis waren rund 100 Stunden. Doch der Schatten scheint ein lässliches Problem zu sein – zumindest im Hinblick auf jüngere technische Fragen. Denn bei den Brennstäben geschieht Seltsames: einige Rohrhüllen für das Uranmaterial rosten.
Bis zu einem Neuanfahren im Februar ruhte deshalb der Reaktor wegen der Ursachenforschung für ein halbes Jahr. Seitdem darf er nur mit einer zehnprozentigen Leistungsminderung laufen. Die Rostursache konnte nicht überzeugend geklärt werden. Noch heikler wird die Angelegenheit durch eine Meldung der Schweizer Atomaufsichtsbehörde Ensi im vergangenen Winter. Sie lautet, dass schon 2014 bei den Brennstäben Roststellen gefunden worden seien.
„Die Leute“, schätzt deshalb Tennischef Tröndle, „wären in der Zwischenzeit richtig froh, wenn die Anlage endlich abgeschaltet werden würde.“Insofern macht eine eidgenössische Volksabstimmung über die nationale Energiepolitik am vergangenen Sonntag etwas Hoffnung. 58 Prozent votieren für den Ausstieg aus der Atomkraft. Neue Nuklearmeiler dürfen demnach nicht mehr gebaut werden. Immerhin war dies bis in die jüngste Vergangenheit hinein eine Option für die Schweiz gewesen. Standorte im Hochrhein-Gebiet wurden angedacht. Dies hat sich erledigt. Zudem betrifft das Votum bestehende Blöcke. Sie sollen vom Netz gehen, wenn sie nicht mehr brauchbar sind.
In und um Dogern herum sorgt das Abstimmungsergebnis ein Stück weit für Aufatmen. Nicht nur, dass mit Leibstadt ein Atomkraftwerk direkt vis-à-vis steht. Einige Kilometer weiter in die Schweiz hinein befinden sich die beiden Uraltreaktoren von Beznau. Der erste Block ruht gegenwärtig, seitdem bei einer Überprüfung des Reaktordruckbehälters etwa 1000 Schwachstellen entdeckt wurden. Klar, dass in diesem Fall der Wunsch nach einem Ende besonders stark ist – auch in den dort liegenden Schweizer Dörfern.
Doch das sonntägliche Votum hat einen Pferdefuß: Es kennt keine definitive Laufzeitbegrenzung. Darauf verweist auch das grüngeführte baden-württembergische Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft. Speziell auf die drei grenznahen Reaktoren in Leibstadt und Beznau gemünzt, heißt es aus Stuttgart, sie würden „aus unserer Sicht nicht den notwendigen Sicherheitsstandards“entsprechen. Der eidgenössische Blick darauf scheint unkritischer zu sein. So hat die Betreibergesellschaft von Leibstadt, hinter der sich wiederum ein Konsortium aus sechs Schweizer Energiefirmen verbirgt, bereits am Dienstag deutlich gemacht: „Wir wollen bis 2045 Strom produzieren.“Leibstadt wäre dann aber 61 Jahre in Betrieb gewesen.
Defizitärer Meiler
Unklar ist, wie realistisch solche Planungen sind. Vergangenes Jahr wurde ein vertrauliches Protokoll des Schweizer Nationalrates publik. Alpig, der größte Anteilseigner von Leibstadt, dachte offenbar daran, die Anlage für einen Franken an ein französisches Unternehmen zu verschleudern. Der Hintergrund: Das Atomkraftwerk fährt nur noch Defizite ein. Allein die Betriebsausfallkosten während der jüngsten halbjährlichen Pause betragen rund 200 Millionen Franken, wie die Betreibergesellschaft mitgeteilt hat. Nach vorliegenden Zahlen kostet die Produktion von einer Kilowattstunde in Leibstadt fünf Rappen. Verkauft werden kann sie für dreieinhalb Rappen.
Die Schweiz bezieht aber immer noch ein Drittel ihres Stromes aus der Atomkraft. Von der Wasserkraft abgesehen, steckt der Aufbau erneuerbarer Energien in den Kinderschuhen. Es droht beim Ausfall der Atomkraftwerke eine Versorgungslücke. Überbordende Stromimporte sind jedoch bei den auf Eigenständigkeit geeichten Eidgenossen eher unpopulär. Hier wirkt noch das historische Reduit-Konzept nach, also der Gedanke einer Festung Schweiz. Bisher ist deshalb auch nur bei einem der fünf nationalen Reaktoren das Ende festgelegt: Mühleberg in der Nähe der Hauptstadt Bern wird 2019 nach 47 Betriebsjahren abgewickelt. Eine weitere Instandhaltung und -setzung wäre zu teuer geworden.
„Mal sehen, wie es mit Leibstadt weitergeht“, sagt der Dogerner Bürgermeister Matthias Guthknecht. „Kommt es zu weiteren Ausfällen wie im vergangenen Jahr, kann auch rasch Schluss sein“, glaubt er. Recht wäre es ihm. Man ertrage im Ort das Kraftwerk eben, weil es vorhanden sei. Dass die Betreiber etwas Geld über den Hochrhein schicken würden, spiele keine größere Rolle. Nach Guthknechts Worten bekommt die Gemeinde jährlich bis zu 18 000 Euro vom Kraftwerk: „Für Projekte, die wir einreichen müssen.“So geht es gegenwärtig um den Ausbau der Schulküche.
In den ersten Betriebsjahren des Reaktors hat es offensichtlich noch ein sogenanntes „Schattengeld“gegeben. Zudem wurden örtliche Vereine unterstützt. „Aber diese Großzügigkeit hat schon lange ein Ende“, berichtet der Bürgermeister. Anders als eben die Laufzeiten. Bitten der baden-württembergischen Landesregierung, zu einem Ende zu kommen, werden von den Eidgenossen als Einmischung in interne Angelegenheiten abgeschmettert. Auch der betroffene Landkreis Waldshut, zu dem Dogern gehört, wurde aktiv. Im März 2016 forderte der Kreistag verbindliche Abschalttermine für Leibstadt und Beznau ein: vergeblich. Landrat Martin Kistler stellt fest: „Die Menschen am Hochrhein sind wegen der relativ häufigen Vorfälle in den beiden Atomkraftanlagen um ihre Sicherheit besorgt.“
Schrottreife Anlagen?
Ähnliches sagt der Waldshut-Tiengener Oberbürgermeister Philipp Frank. Von der Kreisstadt bis zum Atomkraftwerk sind es gerade drei Kilometer. Thomas Dörflinger, regionaler Bundestagsabgeordneter der CDU, gesteht der Schweiz indes Zeit zur Umstellung auf erneuerbare Energien zu: „Qualität zählt mehr als Schnelligkeit.“Ob jedoch ein Abwarten wirklich so schlau ist, bezweifelt wiederum Monika HerrmannSchiel. Sie ist Sprecherin der Bürgerinitiative „Zukunft ohne Atom“und hält die Anlagen im Nachbarland für Schrott. Das Abstimmungsergebnis vom Sonntag sei aber wenigstens „ein Silberstreifen am Horizont“.
Gut bezahlte Arbeitsplätze
Möglich, dass dies aber doch der eine oder andere Grenzlandbewohner anders sieht. Die Kraftwerke in Leibstadt wie Beznau bieten gut bezahlte Arbeitsplätze auch für Deutsche. Orte wie Dogern sind richtige Pendlerdörfer. Etwa ein Drittel der Erwerbstätigen verdiene sein Geld bei den Eidgenossen, heißt es aus dem Rathaus. Darunter seien einige, die in den Nuklearanlagen arbeiten würden. „Schauen Sie doch mal ins Neubaugebiet. Manches große Haus wurde in Leibstadt verdient“, weiß ein mittäglicher Stammtisch im Gasthaus Zum Hirschen.
So richtig regt sich in dieser munteren Runde niemand auf. „Das Kraftwerk ist große Politik. Da haben wir nichts zu entscheiden“, meint Paul Martin, der im Ort einen Fahrradhandel betreibt. Dann schwenkt die Unterhaltung wieder in eine andere Richtung. Wie es denn nun um den Bau des neuen Kunstrasenplatzes für den Fußballverein stehe, wird gefragt. „Am Nachmittag geht es weiter“, sagt der nächste.
Immerhin hat der Plastikrasen einen Vorteil: Anders als auf den Wiesen oder Feldern am Rand von Dogern muss sich niemand Gedanken über eine mögliche Wachstumsbremse durch den Kraftwerksschatten machen.