Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Aus den Fugen
Die Meisterpflicht fiel 2004 – Seitdem kämpft das deutsche Handwerk um seine verlorenen Titel
- „Demütigend war es für uns alle“, beschreibt Fliesenlegermeister Harald Herrmann den Moment, als die rot-grüne Bundesregierung 2004 die Meisterpflicht für 52 der insgesamt 93 Handwerksberufe gestrichen hat. Laut Handwerksordnung durfte sich bis dahin in Deutschland als Handwerker nur selbstständig machen, wer seinen Meister gemacht hatte. Nun fiel dieser „Große Befähigungsnachweis“, auf den viele Handwerker stolz sind, in mehr als der Hälfte der Gewerke weg. Und die Handwerker der 41 verbliebenen Meisterberufe hätten seitdem Angst, sagt Herrmann, heute 58 Jahre alt und Präsident der Handwerkskammer Reutlingen. Angst davor, wann es sie treffen könnte.
Diese Angst hat im Januar dieses Jahres eine neue Dimension angenommen. Die Europäische Kommission hat ihre Mitgliedsstaaten verpflichtet zu prüfen, ob bestehende berufliche Zulassungsbeschränkungen gerechtfertigt sind. Die Argumente heute sind dieselben wie die der Handwerksnovelle von 2004.
Es solle einfacher werden, Unternehmen zu gründen und über Grenzen hinweg beruflich tätig zu sein. Damals bezeichnete das Bundesamt für Arbeit die Situation als dramatisch. Die Arbeitslosigkeit lag bei über zehn Prozent, es mangelte an Ausbildungsplätzen und die Prognosen waren düster. Die Handwerksnovelle sollte im Zuge der Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder (SPD) den durch verkrustete Strukturen unflexiblen deutschen Arbeitsmarkt wieder beleben – durch mehr Unternehmensgründungen und mehr Ausbildungsplätze.
Der aktuelle Vorstoß der Europäischen Kommission mit den selben Zielen, trifft in Deutschland auf eine geschlossene Front an Gegnern, von der Bundesregierung hin bis zu Vertretern des Handwerks – wie Harald Herrmann. Als Fliesenlegermeister und Präsident der Handwerkskammer Reutlingen sind für ihn die Ziele der Handwerksnovelle nicht erreicht worden. Mehr noch, die Reform hätte überwiegend negative Folgen. Der Streit um die Meisterpflicht
Zahlreiche Betriebe schließen
Wie von der Reform beabsichtigt ist die Anzahl der Fliesenlegerbetriebe im Handwerkskammerbezirk Reutlingen gewachsen – bis heute fast um das Fünffache, darunter viele EinMann-Betriebe. Das habe zu einer extremen Konkurrenzsituation geführt sowie zu einer für Herrmann besorgniserregenden Anzahl von Betriebsauflösungen. „Es kommen immer ungefähr so viele Betriebe dazu wie im gleichen Jahr wieder gelöscht werden. Das ist eine ganz extreme Entwicklung, die auch nicht gut ist.“Von 2004 bis 2016 sind das insgesamt gesehen über 1000 Löschungen. „Da sind bestimmt einige dabei, die in ein finanzielles Fiasko geschlittert sind“, ist sich Herrmann sicher. Für ihn und seine Handwerkskollegen ist der Grund dieser „nicht nachhaltigen“Entwicklung eine mangelhafte Ausbildung. Auf der Meisterschule werden auch betriebswirtschaftliche Inhalte vermittelt, die nach Herrmann vielen, die sich nach 2004 selbstständig machen durften, fehlen würden.
So sei der Meistertitel einer der Gründe, warum es Herrmanns Fliesenlegerbetrieb heute noch gibt, wie er sagt. Durch diesen habe er sich von der Konkurrenz abheben, Kunden qualitativ hochwertige Arbeit anbieten und seinen Betrieb wirtschaftlich führen können. Allerdings sei es für ihn einfach gewesen, sich selbstständig zu machen. Sein Vater hatte ebenfalls einen Fliesenlegerbetrieb, und so stand ihm als junger Meister mit 21 Jahren ein etablierter Kundenkreis offen.
40 Prozent Preisdifferenz
Was aber, wenn man nicht in so einer günstigen Situation ist? „Sich am Markt zu etablieren, funktioniert meistens über den Preis“, schneidet Handwerkskammerpräsident Herrmann seinen nächsten Kritikpunkt an der Novelle an – Lohndumping. Hole sich ein Kunde Angebote ein, „ist eine Preisdifferenz von 40 Prozent keine Seltenheit“, da das Fliesenlegen sehr lohnintensiv sei. Die Preisdifferenz beim Material liege bei maximal sechs Prozent. Die Innungsbetriebe seien tarifgebunden, selbstständige Ein-Mann-Betriebe dagegen nicht. Deshalb würden oft Pauschalangebote gemacht. „Der Kunde fragt selten nach Referenzen, sondern es geht oftmals über den Preis. Dann haben wir in unserem Betrieb keine Chance auf den Auftrag“, sagt Herrmann.
Eine weitere Folge sei die Zunahme der Schwarzarbeit, so Herrmann. Er vermutet, dass es unter den EinMann-Betrieben welche gibt, die nicht alle Umsätze beim Finanzamt angeben. Er rechnet vor: „Unsere Umsatzsteuergrenze liegt bei 17 500 Euro Jahresumsatz. Wer darunter ist, zahlt keine Umsatzsteuer. Und von 17 500 Euro kann man nicht leben. Also ist es offensichtlich, dass sie schwarzarbeiten – auch wenn man es nicht nachweisen kann.“
Auch die handwerkliche Qualität hat nach 2004 abgenommen. Das bestätigt Wolfgang Wulfes, Bundesfachbereichsleiter Bau im Bundesverband öffentlich bestellter und vereidigter sowie qualifizierter Sachverständiger (BVS): „Ich stelle vermehrt Mängel bei Fliesenarbeiten fest, die ihre Ursache in mangelnder Fortbildung und fehlendem Grundwissen der ausführenden Personen haben. Dieses Grundwissen wird in der Fliesenlegerausbildung vermittelt und findet sich in der erweiterten Qualifikation eines Fliesenlegermeisters. Baumarktwissen reicht nicht aus, den qualifizierten Beruf eines Fliesenlegers bei der heutigen komplexen Bauweise so auszuüben, dass die Leistung mangelund schadensfrei ist.“
Geringere Ausbildung
Im Bereich der Ausbildung hat die Handwerksnovelle für Harald Herrmann komplett versagt: „Ausbilden konnten die neuen Betriebe nicht ohne einen Meister beziehungsweise ohne einen Ausbildungsnachweis.“Und diese Zusatzqualifikation hätten nur wenige Betriebe erlangt, so Herrmann. Kamen 2004 knapp 20 Auszubildende auf hundert Betriebe, so sind es 2016 nur rund vier Auszubildende pro hundert Betrieben gewesen.
Eine Studie der Friedrich-EbertStiftung zu den Effekten der Handwerksnovelle sieht deren Erfolg in der massenhaften Gründung von Betrieben und der Schaffung neuer Beschäftigung. Die Studie bestätigt aber auch die Erfahrungen bei der Handwerkskammer Reutlingen: „Für die Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen, besseren Qualifikationen, mehr Innovationen oder zusätzlichen Investitionen scheint die Handwerksnovelle aber nicht das angemessene Mittel gewesen zu sein.
Dass das trotz des neuen Vorstoßes auch in Brüssel so gesehen wird, darauf setzt das deutsche Handwerk. „Da bewegt sich gerade etwas“, sagt Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, der „Schwäbischen Zeitung“. Zudem „haben Bundestag und Bundesrat eine Subsidiaritätsrüge nach Brüssel geschickt. Der Bundestag pocht darauf, dass die Mitgliedstaaten weiter autonom über die Reglementierung von Berufen entscheiden können.
Das werden die 41 Gewerke, die ihren Meistertitel noch nicht verloren haben, gerne hören. Behält Wollseifer recht, ist ihr „Großer Befähigungsnachweis“nicht mehr in Gefahr. Das schürt auch Hoffnungen bei den Gewerken, die den Meistertitel 2004 verloren haben.