Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Verstehen und Verurteilen
Endspurt in Cannes: Filme von Fatih Akin und Sofia Coppola im Wettbewerb
- „Ich habe Angst vor dieser Rolle gehabt. Die Reise meiner Figur Katja hat mich sehr berührt. Wie kann man mit diesem Horror und der Ungerechtigkeit leben?“So beschrieb Diane Kruger, Hauptdarstellerin in Fatih Akins neuem Film „Aus dem Nichts“, ihre Figur nach der Premiere in Cannes. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag wurde überwiegend positiv aufgenommen. Schon während der Woche hatte man gehört, der Film sei auf dem wichtigen Cannes-Film-Markt auf begeisterte Reaktionen gestoßen, und habe sich in die ganze Welt verkauft.
Dass es im Festivalpalais neben viel Applaus auch einzelne Buhrufe gab, kann angesichts der Geschichte nicht überraschen: Akin erzählt von einer Frau, deren Mann und Kind bei einem rechtsextremen Terroranschlag ermordet werden. Parallelen zum NSU-Terror sind nicht zufällig. Die Pointe aber – und dies muss man enthüllen, um über den Film sprechen zu können – ist, dass Krugers Katja das Recht in die eigene Hand nimmt und Selbstjustiz übt.
„Das ist die Entscheidung des Charakters“, verteidigte Akin seine Figur. „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich Frau und Kind verlöre.“Leider sind die Passagen über Justiz und Staatsanwaltschaft gerade der Schwachpunkt in einem moralischen Drama, in dem der Charakter der Mutter, ihr Leid und der Umgang damit, im Zentrum stehen. Akin zeichnet auf der Leinwand ein schwarzes Bild unser gegenwärtigen Welt. Doch trotz zunehmendem Rassismus und Faschismus bleibe er „Optimist“, so Akin am Freitag.
In diesen Tagen, in denen sich das Festival dem Ende zuneigt, steigt das Palmenfieber, es sind die Tage der Juryflüsterer und der Spekulationen, wer wohl am Sonntagabend die besten Chancen auf einen der Preise hat. Eine Wettbewerbspremiere steht heute Abend noch aus und der außer Konkurrenz laufende Abschlussfilm von Roman Polanski.
Was mag wohl die Jury um Pedro Almódóvar entscheiden? Worauf können sich zum Beispiel Maren Ade und Will Smith einigen? Vielleicht ja doch auf eine weibliche Preisträgerin? Es wäre erst die zweite Palme für eine Frau nach Jane Campion, die für „Das Piano“gewann.
Unter der Oberfläche
Einer der besten Filme der vergangenen zwölf Tage stammt von der Amerikanerin Sofia Coppola („Lost in Translation“). „The Beguiled“(Die Verführten) ist eine Männerfantasie, die zu einer Frauenfantasie wird: Ein Soldat der Nordstaaten im US-Bürgerkrieg wird in Virginia schwer verwundet im Wald von einem jungen Mädchen aufgefunden. Sie bringt ihn in eine nahe gelegene Mädchenschule, wo er gesundgepflegt wird. Ein Mann unter neun Frauen: Da gibt es eine Lehrerin (Kirsten Dunst), eine Hausdame (Nicole Kidman) und sieben Mädchen verschiedenen Alters. Sie alle sind übriggeblieben, haben sich vor dem Krieg in ein kleines verwunschenes Paradies zurückgezogen, in dem die Zeit stehen geblieben scheint: Eine schöne Villa, ein prächtiger, etwas heruntergekommener alter Garten mit Rosen und riesigen Bäumen. Aber der Krieg ist nahe: Immer wieder ist von fern Geschützdonner zu hören, sind Rauchschwaden zu sehen – das kann man auch als eine zeitgemäße Analogie auf unsere eigene Lage verstehen.
Sofia Coppola ist eine Filmemacherin der Ästhetik. Man hört schöne Musik, Lieder aus dem Civil War, man sieht pastellfarbene, geschmackvoll gestaltete Bilder, mit Weichzeichner gefilmte Morgennebellandschaften und Sonnenuntergänge.
Es ist ein System der subtilen, fast unscheinbaren Zeichen, das Coppola hier auf der Leinwand entfaltet. In der Oberfläche entdeckt sie das Mehrdimensionale und Tiefe. Dieses erwachsene Märchen aus dem Old South ist auch eine Untergangsgeschichte. Es erzählt vom Abschied von einer Zivilisation, von Manieren, von Lebensstil. Außerdem belegt dieser Film, wie sehr Coppola eine Humanistin in der Tradition des großen Jean Renoir ist: Allen Figuren gönnt dieser humanistische Film ihre Momente, gibt gute Gründe sie zu lieben und sich auf sie einzulassen: Das Verstehen ist die Aufgabe des Künstlers. Nicht das Verurteilen.
Das wird also die prinzipielle Wahl sein, die die Jury zu treffen hat, wenn sie nicht einen Kompromisskandidaten wie Francois Ozons Psychothriller-Spiel „Un Amant Double“prämieren will: Entscheidet sie sich am Ende eines anständigen, aber nicht wirklich herausragenden Festivaljahrgangs für humanistisches, offenes Kino, wie es auch die Japanerin Naomi Kawase bietet, oder eher für die anti-humanistischen Porträts unserer Welt als Panoptikum aus Amoral und Dummheit: In den neuen Filmen von Michael Haneke oder vom Schweden Ruben Östlund, erst recht in den beiden russischen Wettbewerbsfilmen, gibt es nur schlechte Gründe, Glück und Hoffnung sind gestorben. Derartiges Depressionsund Misanthropiekino verrät die eigene Kritik, weil es keine Auswege zeigt, und sich darin noch gefällt.