Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der Präsident freut sich mit Ramil Guliyev
Erdogan gratuliert dem 200-Meter-Weltmeister – der muss sich kritischen Fragen stellen
LONDON (SID/dpa) - Da war dann auch der bis dahin so coole Ramil Guliyev baff. In den Katakomben des Londoner Olympiastadions drückte ein Betreuer dem neuen 200-MeterWeltmeister ein Mobiltelefon in die Hand. „Guten Abend, Recep Tayyip Erdogan hier“, meldete sich der Staatspräsident aus Ankara. Gratulieren ist Chefsache, wenn ein Türke der internationalen Läuferelite davonrennt – obwohl der eigentlich Aserbaidschaner ist. „Ich beglückwünsche Ramil Guliyev, denn er hat uns alle so stolz gemacht“, schickte Erdogan wenig später via Twitter hinterher. Seit 2013 besitzt Guliyev das Startrecht für die Türkei, Südafrikas Favorit Wayde van Niekerk hatte er soeben bezwungen und in 20,09 Sekunden gewonnen. Jetzt verkündete er: „Dieses Rennen war ein Traum. Ich bin einfach nur glücklich.“
Damit aber waren die erfreulichen Themenkomplexe abgehandelt, unangenehme Nachfragen folgten. Denn Erfolgen türkischer Leichtathleten haftet aus schlechter Tradition der Ruf des Zwielichtigen an. Ob es sich denn nicht seltsam anfühle, nicht für sein Heimatland, für das er 2008 noch bei Olympia angetreten war, Weltmeister zu werden? „Ich lebe in der Türkei, ich starte für die Türkei“, sagte Guliyev schmallippig. Und – schon deutlich genervter – auf die Frage nach der Unzahl türkischer Dopingskandale im vergangenen Jahrzehnt: „Jeder ist verantwortlich für sich selbst. Was soll ich denn dazu sonst noch sagen?“
Aus Guliyevs Sicht: besser nicht viel. Denn seine Tätigkeit für seinen türkischen Arbeitgeber, der ihn dem Nachbarland quasi abgekauft hat, lässt sich der 27-Jährige fürstlich entlohnen. Mit Guliyevs London-Gold hat sich das durchaus fragwürdige Konzept der Türken nun erstmals richtig ausgezahlt. Deren Verband hat sich jüngst wie ein Manchester City der Leichtathletik durch die Reihen finanzschwächerer Nationen geshoppt, vorzugsweise Kenianer, Kubaner und Jamaikaner für gutes Geld an den Bosporus gekarrt. Bei der EM 2016 räumten die Türken zwölfmal Edelmetall ab – in der Türkei geboren waren zwei Medaillengewinner.
In London ist die Türkei mit vier gebürtigen Kenianern am Start, zwei Jamaikanern, einem Äthiopier, einem Kubaner und dem Aserbaidschaner Guliyev. Das Länder-Hopping ist dem Weltverband IAAF ein Dorn im Auge. „Wir müssen die Regeln strenger und transparenter machen“, sagte Präsident Sebastian Coe. Im November soll dies geschehen, um die schlimmsten Auswüchse zu stoppen.
So darf sich die Türkei aber über ihr erstes WM-Gold freuen und hoffen, dass die Freude länger währt als bei den vermeintlichen Siegen vergangener Tage. Denn bevor die Türken auf Finanzkraft als Erfolgsbringer setzten, hatten es ihre Athleten mit Doping versucht. 2012 etwa holten die 1500-Meter-Läuferinnen Asli Cakir Alptekin und Gamze Bulut überraschend Olympiagold und -silber, es folgte die Disqualifikation infolge positiver Dopingtests. Immerhin: Sie hatte man nicht einbürgern müssen.