Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Kanzlerin gibt sich sozialdemokratisch
Angela Merkel (CDU) eröffnet heiße Wahlkampfphase und setzt auf Oppositionsthemen
DORTMUND - Ach ja, eines habe sie „vergessen“. Angela Merkel (CDU) schnappt sich das Mikrofon: „Dass die Wahl natürlich noch nicht entschieden ist und dass wir jede Stimme brauchen“. Samstagmittag, Dortmund, Westfallenhalle: Die Kanzlerin eröffnet die heiße Wahlkampfphase.
Sie tut es ausgerechnet in Dortmund, das trotz Verlusten bei der NRW-Wahl im Mai als SPD-Hochburg gilt. Ausgerechnet mit einem Auftritt bei der CDA, dem Arbeitnehmerflügel der CDU, der sich in vielen Themen mit den Sozialdemokraten einigen kann. Der Wochenendauftritt vor rund 1000 Anhängern im Ruhrgebiet – Startsignal für Merkels „Deutschland-Tour“, bei der bis zum 24. September mehr als 50 Termine geplant sind. Doch wer zum Auftakt eine durch und durch kämpferische Kanzlerin erwartet, wird enttäuscht. Laute Popmusik wummert aus den Boxen, als sie den Saal betritt. Der Applaus verebbt schnell wieder. Die CDU setzt nicht auf Showeffekte, sondern einzig und allein auf Merkel.
40 Minuten lang bietet sie ein „Best of…“ihres Wahlprogramms. Nicht mit einem Wort erwähnt sie ihren SPD-Herausforderer Martin Schulz, hält aber eine Rede, die von wenigen Punkten abgesehen auch von ihm hätte stammen können. Merkel trifft den Ton bei den CDA-Anhängern, stellt Gerechtigkeitsthemen in den Vordergrund – und watscht in der Abgasaffäre die Autobosse kräftig ab. Kritik, die von ihr bisher nicht in dieser Deutlichkeit zu hören war.
Vertrauen zerstört
„Weite Teile der Automobilindustrie haben unglaubliches Vertrauen verspielt“, spricht Merkel Klartext. Dieses müssten die Vorstände wieder herstellen. Ehrlichkeit gehöre zur sozialen Marktwirtschaft: „Das, was man da unter den Tisch gekehrt hat, oder wo man Lücken in den Abgastests massiv genutzt hat bis zur Unkenntlichkeit, das zerstört Vertrauen.“
Man könne nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, kündigt Merkel einen zweiten DieselGipfel im Herbst an. Die Unternehmen müssten die „Zeichen der Zeit“erkennen, sich erneuern und auch von der Politik angeschubst werden. Software-Updates für Diesel-Fahrzeuge seien „mal das Mindeste“, die Umtauschprämien „ein Schritt“.
Erstmals in diesem Wahlkampf schaltet sich Merkel damit in die Abgas-Debatte ein. Ihre Äußerungen zum Diesel-Thema sind aber weitgehend deckungsgleich mit den Forderungen des SPD-Kanzlerkandidaten. Nur an einer Stelle gibt es Dissens: Merkel lehnt die Forderung der Genossen nach eine E-Auto-Prämie als nicht durchdacht ab. So entsteht zumindest der Eindruck, dass Union und SPD beim Abgas-Thema unterschiedlicher Meinung sind.
Und auch das ist eine Facette ihres Auftritts bei der CDA: Selten hat man sie so offensiv die Arbeitsmarktpolitik der Großen Koalition loben gehört. Ein Terrain, auf dem die Erfolge vor allem von der SPD reklamiert werden. Auch wenn die Union „etwas andere Vorstellungen über den Mindestlohn“gehabt habe, wie sie einräumt, habe man diesen zusammen eingeführt und so „vielen Menschen mehr Sicherheit gebracht“. Beim Thema Rente reagiert die Kanzlerin auf Kritik aus der SPD, ein Zukunftskonzept schuldig zu bleiben, erinnert daran, dass man in der letzten Großen Koalition mit dem damaligen Sozialminister Franz Müntefering entscheidende Reformen auf den Weg gebracht habe – unter anderem die Rente mit 67. Nun sei Vollbeschäftigung das Ziel, „damit das Absinken des Rentenniveaus und das Ansteigen des Beitrags nicht so stark stattfindet“. Mindestlohn, Leiharbeit, Rente, Hilfen für Familien – geschickt besetzt Merkel Themen, mit denen eigentlich die SPD punkten will.