Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Das Problem des Superstarverstehers
Die Solidaritätswelle für Thomas Müller könnte Carlo Ancelotti in die Bredouille bringen
Zu Beginn ein paar Zahlen. Zur Einordnung. Zahlen lügen schließlich nicht. Seit Carlo Ancelotti Trainer des FC Bayern München ist, hat der Rekordmeister wettbewerbsübergreifend (inklusive des Supercups) 54 Pflichtspiele absolviert. Thomas Müller durfte bei 46 dieser Spiele mitwirken, 43-mal stand er in der Startelf. Nur David Alaba (50) und Robert Lewandowski (51) durften unter Ancelotti noch öfter spielen als Müller.
Und doch droht Ancelotti, aufgrund seiner menschlichen Qualitäten eigentlich der erklärte Lieblingstrainer auch charakterlich etwas spezieller Superstars wie Zlatan Ibrahimovic oder Cristiano Ronaldo, nun ausgerechnet wegen des Gaudiburschen Müller seinen Nimbus als Superstarflüsterer und -versteher zu verlieren. Womöglich sogar noch mehr als das.
Mit seinen frustrierten Sätzen nach dem mühsamen Sieg der Bayern in Bremen vor der Länderspielpause („ich weiß nicht genau, welche Qualitäten der Trainer sehen will, aber meine sind scheinbar nicht hundertprozentig gefragt“) hat Müller, der 73 Minuten auf der Bank gesessen hatte, eine mittlere Staatsaffäre im zugegeben traditionell hyperaufgeregten Fußballland ausgelöst.
Nun war die These, dass Ancelotti mit anderen Fußballertypen vielleicht mehr anfangen kann als mit Anarchokicker Müller, auch letzte Saison schon nicht komplett abwegig (im Sport mag es um Ergebnisse gehen, doch Zahlen waren noch nie alles). Doch als Müller in der letzten Saison nicht in allen wichtigen Spielen in der Startelf stand, hatten sich seine Kameraden danach noch nicht zu gut gemeinten Solidaritätsbekundungen hinreißen lassen.
„Ich lasse auf Thomas nichts kommen. Wenn er mal eine schlechtere Phase hat, darf man ihn nicht infrage stellen“, sagte etwa Verteidiger Mats Hummels. Und Bayerns Kapitän Manuel Neuer meinte im „kicker“: „Ich finde es okay, dass er spielen will – und das von Anfang an. Es ist okay, wenn einer Ansprüche an sich selbst hat und sie formuliert.“Schon in Bremen hatte Neuer gesagt: „Ich gehe davon aus, dass er die nächsten Wochen wieder von Beginn an spielen wird.“
Gut gemeint, sicherlich. Aber die Aufstellung ist Aufgabe des Trainers. Der mit Thiago, der in Bremen den Vorzug erhalten hatte vor Müller, den wohl besten Passspieler der Bundesliga in seinem Kader hat. Und mit James, mittlerweile von seiner Verletzung genesen, einen Offensivstar verpflichtet hat, den er schon zu Real Madrid holte. Von ihren Charakteristiken her scheinen Ballverteiler Thiago und Trickser James auch besser ins taktische Konzept Ancelottis zu passen. Der Trainer begründete Müllers Bankrolle in Bremen auch mit rein taktischen Gründen.
„Autorität wird untergraben“
„Es ist ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotenzial, wenn sich Spieler in die Entscheidung des Trainers einmischen und Politik machen. Der Verein muss das unterbinden, denn die Autorität des Trainers wird untergraben“, warnte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus sogar schon in der „Sport Bild“.
Womöglich hätte sich die Situation auch bald wieder beruhigt, Bayern hatte ja gewonnen, Müller gut gespielt nach seiner Einwechselung. Doch durch die Sympathiebekundungen der Mitspieler wurde die Angelegenheit größer, als sie womöglich ist. „Ich würde mir wünschen, dass man im Verein sagt: Der muss spielen“, sagte zuletzt etwa Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff. Ex-DFB-Kapitän Michael Ballack sagte gestern erst am Rande eines Sponsorentermins zwar, dass auch Müller sich dem „Leistungsprinzip unterordnen“müsse, betonte aber auch: „Thomas hat in Deutschland eine Ausnahmestellung, auch bei Bayern.“
Zumal die FCB-Verantwortlichen entgegen sonstiger Gepflogenheiten lange schwiegen und so nur die Mutmaßungen befeuerten: Wollten die Bosse ihrem Trainer schweigend etwas mitteilen? Waren auch sie unglücklich über den Umgang des Coaches mit dem Publikumsliebling? Was, wenn Müller auch in Hoffenheim (Sa., 18.30) nicht spielen wird? Droht Ancelotti gar, den Rückhalt in der Mannschaft zu verlieren?
Erst am Donnerstag ging Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge in die Offensive. „Grundsätzlich gibt es keinen Spieler beim FC Bayern, der eine Stammplatzgarantie hat. Ich glaube, wir gehen sehr entspannt mit dem Thema um. Es gibt nur einen Mann bei uns, der darüber entscheidet, mit welcher Taktik und mit welcher Mannschaftsaufstellung wir spielen – und das ist Carlo Ancelotti, unser Trainer“, sagte er zu Sky. Und weiter: „Wenn Thomas gut spielt, Tore macht, wird jeder Trainer glücklich sein, auch Carlo, dass er in unserer Mannschaft ist.“
Auch Carlo.