Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wenn Bürger auf die Barrikaden gehen
Proteste von Nachbarn gegen Bauvorhaben nehmen in Ravensburg deutlich zu
RAVENSBURG - Die Wohnungsnot im Mittleren Schussental führt dazu, dass immer verdichteter gebaut wird. Gut für Neubürger, schlecht für Nachbarn, die sich an ihre gute Sicht oder ihre Ruhe gewöhnt haben. Fast jedes Bauvorhaben oder Neubaugebiet in Ravensburg zieht daher unweigerlich Proteste nach sich. Manchmal formiert sich eine Bürgerinitiative, manchmal klagen Nachbarn einzeln. Aber wie aussichtsreich ist das überhaupt? Wer hat Erfolg, wer nicht?
Paragraf 55 der Landesbauordnung schreibt vor, dass direkte Nachbarn oder Angrenzer im Genehmigungsverfahren angehört werden müssen. Dafür haben sie vier Wochen nach Zugang des Schreibens von der Stadtverwaltung Zeit. Äußert man sich in diesem Zeitraum nicht, gilt das Stillschweigen als Zustimmung. Ansonsten kann der betroffene Nachbar selbst oder über einen Anwalt Bedenken geltend machen. Der Gemeinderat muss dann abwägen, ob diese Bedenken ernst zu nehmen sind und ihnen abgeholfen werden muss, oder ob sie ignoriert werden können.
„Die Proteste haben definitiv zugenommen, das ist statistisch erwiesen“, weiß der Ravensburger Baubürgermeister Dirk Bastin. „Sie haben heute fast immer Gegenwind bei Bauprojekten, egal, ob es ein Kindergarten, eine Dreifachturnhalle oder im Extremfall ein Asylbewerberheim ist, das fast niemand vor seiner Haustür haben möchte.“
Bastin: Bürger sind in Sorge
Zwei Gründe macht Bastin im Wesentlichen für die neue WutbürgerKultur aus: „Die älter werdende Bevölkerung sorgt sich mehr um ihr Quartier und fürchtet den Verlust von Identität.“Der zweite Grund sei die schnellere Vernetzung von Nachbarn, die sich zum Beispiel in Bürgerinitiativen zusammenschließen würden. Diese hätten ein ganz anderes politisches Gewicht als Einzelpersonen. Bastin: „Die Politik hört dann genauer hin, wenn es im Stadtteil rumort.“
Beispiele für Proteste gibt es viele. Einige davon erfolglos, wie die Bibobs (Bürgerinitiative Baugebiet Oberer Büchelweg) am Sennerbad, die sich gegen neue Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft wehrte – vergeblich. Derzeit engagieren sich die Bibobs-Bürger gegen die Pläne, das Gut Büchel in ein Hotel umzuwandeln, da sie eine weitere Zunahme des Verkehrs fürchten.
Andere wiederum sind durchaus erfolgreich. In der Galgenhalde, wo der Bau- und Sparverein neue Wohnungen baut, war ursprünglich ein weiteres Grundstück zur Bebauung vorgesehen. „Das wurde im Moment zurückgestellt, weil es den Stadtteil zu sehr überfordern würde“, sagt Bastin.
Manche Nachbarn ziehen auch gegen die Stadt vor Gericht, um neue Bauvorhaben zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Aktuell klagt ein Rentnerpaar in Weißenau gegen ein geplantes Studentenwohnheim, weil es nächtlichen Lärm und mehr Verkehr fürchtet. Zwar wurde ein Eilantrag auf Baustopp vom Verwaltungsgericht Sigmaringen abgewiesen, das Paar will aber nicht aufgeben und sich notfalls durch alle Instanzen klagen.
Mindestens drei Jahre erfolgreich verzögert hat ein Landwirt in Schmalegg bislang das Neubaugebiet „Brachwiese III“. Der Bauer fürchtet, dass die neuen Nachbarn das nächtliche Spritzen seiner Obstplantagen nicht klaglos hinnehmen werden, und geht ebenfalls juristisch gegen die Stadtverwaltung vor.
Ein Sturm der Entrüstung ging durch die Südstadt, als Ravensburger Immobilienbesitzer dort ein Geschäftsgebäude einem Münchener Rotlichtunternehmer überlassen wollten, um dort ein größeres Bordell einzurichten. Zwar kein Neubau in dem Sinne, aber mit einer Veränderungssperre und einem Bebauungsplan verhinderte die Stadtverwaltung nach den massiven Protesten der Nachbarn den Puff, obwohl sie sich zuvor für die Ansiedlung offen gezeigt hatte.
Meist gescheitert sind in jüngster Zeit hingegen Bestrebungen, (vermeintlich) wertvolle alte Bausubstanz unter Denkmalschutz stellen zu lassen, um einen Abriss und Neubau an gleicher Stelle zu verhindern. Prominentestes Beispiel ist die Villa Sterkel in der Friedhofstraße, wo derzeit noch die Musikschule untergebracht ist.
Es gibt nur wenig freie Fläche
Baugrund zu erschließen, wird auch in Weingarten immer schwieriger, weil es dort ohnehin nur wenig unbebaute Fläche gibt. 2010 hatte die Stadt versucht, im Reutebühl ein ökologisch wertvolles Grundstück zu veräußern. Dort sollte eine einzige mondäne Villa hinkommen, was nicht gerade Sympathie in der Bevölkerung erzeugte. Nach anhaltenden Protesten der Bürger, die ihr beliebtes Freizeitziel in Gefahr sahen, musste die Stadtverwaltung den Plan fallen lassen. Auch am Vorderochsen scheiterte ein Bauvorhaben wegen Protesten aus ökologischen Gründen. Eine alte Waldkiefer hätte gefällt werden müssen – und wurde von den Bürgern gerettet.
Weingarten, wo etwa bei 70 Prozent aller Baugenehmigungsverfahren Einsprüche eingehen, setzt seitdem auf eine stärkere Bürgerbeteiligung im Vorfeld. Zum Beispiel aktuell beim Schuler-Areal Süd. „Diese über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehende Beteiligungskultur wurde auch aufgrund der Erfahrungen in den angesprochenen Vorhaben am Kreuzberg und bei der Waldkiefer im Rahmen des Stadtentwicklungsprogramms gemeinsam mit der Bürgerschaft entwickelt“, erklärt die stellvertretende Pressesprecherin Bettina Scriba auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Ziel sei es, durch frühzeitige und umfassende Information öffentliche und nachbarschaftliche Belange aufzuzeigen und eine ganzheitliche Betrachtung über die eigenen Interessen hinaus zu ermöglichen. Bei diesen Veranstaltungen bekommen die Einwohner den aktuellen Planungsstand und die Ideen für das Gebiet vermittelt und können sich frühzeitig und aktiv mit Anregungen und Vorschlägen einbringen. Der Gedanke dahinter: Wenn Menschen das Gefühl haben, ihre Umgebung aktiv mitgestalten zu können, ist die Angst vor Veränderung geringer.