Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Anna schreit, weint, schlägt, zerstört“
Wenn Kinder von ihren Eltern getrennt werden – Amtsvormünder berichten im Kreistag
FRIEDRICHSHAFEN - Wenn Eltern nicht für ihre Kinder sorgen können und auch keine Angehörigen diese Aufgabe übernehmen, ist das Jugendamt gefragt. Für 140 solcher Kinder im Bodenseekreis bestehen amtlichen Vormundschaften, 73 allein für unbegleitete minderjährige Ausländer. Vier Mitarbeiterinnen sind im Jugendamt als Amtsvormünder tätig. Ina Schömer und Kerstin Weddecke berichteten gestern im Ausschuss für Jugendhilfe, Gesundheit und Soziales über ihre Arbeit.
Die amtliche Sprache verschleiert die menschliche Tragweite, die hinter dem Begriff „Vormundschaft“steckt. Er wird nur bei Kindern angewandt, bei Erwachsenen spricht man von „gesetzlicher Betreuung“. Die Kinder sind dann nicht mehr Kinder, sondern „Mündel“, und im schlimmsten Fall spielen Eltern und Angehörige in ihrem Leben keine Rolle mehr – zumindest nicht aktuell und aktiv. Denn per Gerichtsbeschluss wurde ihnen das Sorgerecht entzogen und die Kinder in Pflegefamilien, Heimen oder Behinderteneinrichtungen untergebracht. Die elterliche Sorge üben dann die amtlichen Vormünder aus, das heißt sie entscheiden über Umgang, Aufenthalt, schulische Angelegenheiten, Vermögen oder Gesundheitsfürsorge.
Die Situation ist für die Kinder einerseits sehr belastend – „jedes Kind leidet unsäglich darunter, dass es von den Eltern weg muss“, sagte Ina Schömer –, andererseits eine „Wohltat“. Im Regelfall handle es sich um schwerwiegende Vorfälle, die der Trennung der Kinder von ihren Eltern vorausgehen. Schömer führte als Beispiel „Anna“an, ein 13-jähriges Mädchen, die mit einem siebenjährigen Bruder in einem MessieHaushalt aufwächst. Die Eltern haben psychische Probleme und vernachlässigen die Kinder, außerdem bestehe Verdacht auf Mißbrauch. Die Oma sei total überfordert, die Verwandtschaft total zerstritten. Anne sei in ein Kinderdorf gekommen, aber weil man bei ihr eine geistige Behinderung festgestellt habe, anschließend in ein Heim. Sie sei emotional aufgewühlt, „schreit, weint, schlägt, zerstört“. Schömer zitiert einen Brief an ihren Vormund, in dem sie sich beklagt, dass ihre Eltern sie nicht besuchen und sie sich eine Pflegefamilie wünscht.
Ganz anders ist das Klientel, mit dem es Kerstin Weddecke zu tun hat. Als Beispiel führt die Sozialarbeiterin den 16-jährigen Ahmed aus Syrien an. Vor zwei Jahren sei er aus einer Region, wo der Islamische Staat (IS) das Regiment führte geflohen, nachdem sein Freund von IS-Kämpfern verschleppt worden war. Vom Vater sei er nach Europa geschickt worden. Ahmeds Asylantrag sei inzwischen positiv beschieden. Er lebe in einer Wohngruppe, gehe in die neunte Klasse einer Realschule und wolle Krankenpfleger werden. Von seinen Eltern habe er seit einem Jahr nichts mehr gehört. Für Ahmed sei die Situation belastend und es bedürfe einer intensiven pädagogischen Begleitung, um ihn zu stabilisieren.
Wie Ahmed seien die meisten unbegleiteten minderjährigen Ausländer mit ihrer Lage überfordert und oft auch traumatisiert. Selbst wenn sie die Sprache beherrschen, sei Ankommen und Integration keine Frage von Wochen und Monaten, sie könne Jahre dauern, sagte Kerstin Weddecke. Ihr Gelingen sei aber wichtig, denn die Gefahr von Radikalisierung oder Abrutschen in kriminelle Milieus sei nicht von der Hand zu weisen. Feste Bezugspersonen, Verlässlichkeit im Alltag, ein Ort, wo sich die Kinder aufgehoben und wohl fühlen und ein Selbstbewusstsein entwickeln können, das sie zu selbstständigen und eigenverantwortlichen Erwachsenen macht – all das sei notwendig.
Mindestens ein Mal pro Monat besuchen die Vormünder ihre Mündel. Sie intervenieren, wenn es kritisch wird, beraten Pflegeeltern, halten Kontakt zu Erziehern, erledigen Anträge und versuchen, zusammen mit Kooperationspartnern ein Netzwerk für jedes Kind aufzubauen. „Eher selten können Eltern die Sorge wieder übernehmen“, sagte Schömer. Das Familiengericht prüfe in der Regel alle zwei Jahre, ob die Vormundschaft fortgesetzt werde.