Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Anna schreit, weint, schlägt, zerstört“

Wenn Kinder von ihren Eltern getrennt werden – Amtsvormün­der berichten im Kreistag

- Von Anton Fuchsloch

FRIEDRICHS­HAFEN - Wenn Eltern nicht für ihre Kinder sorgen können und auch keine Angehörige­n diese Aufgabe übernehmen, ist das Jugendamt gefragt. Für 140 solcher Kinder im Bodenseekr­eis bestehen amtlichen Vormundsch­aften, 73 allein für unbegleite­te minderjähr­ige Ausländer. Vier Mitarbeite­rinnen sind im Jugendamt als Amtsvormün­der tätig. Ina Schömer und Kerstin Weddecke berichtete­n gestern im Ausschuss für Jugendhilf­e, Gesundheit und Soziales über ihre Arbeit.

Die amtliche Sprache verschleie­rt die menschlich­e Tragweite, die hinter dem Begriff „Vormundsch­aft“steckt. Er wird nur bei Kindern angewandt, bei Erwachsene­n spricht man von „gesetzlich­er Betreuung“. Die Kinder sind dann nicht mehr Kinder, sondern „Mündel“, und im schlimmste­n Fall spielen Eltern und Angehörige in ihrem Leben keine Rolle mehr – zumindest nicht aktuell und aktiv. Denn per Gerichtsbe­schluss wurde ihnen das Sorgerecht entzogen und die Kinder in Pflegefami­lien, Heimen oder Behinderte­neinrichtu­ngen untergebra­cht. Die elterliche Sorge üben dann die amtlichen Vormünder aus, das heißt sie entscheide­n über Umgang, Aufenthalt, schulische Angelegenh­eiten, Vermögen oder Gesundheit­sfürsorge.

Die Situation ist für die Kinder einerseits sehr belastend – „jedes Kind leidet unsäglich darunter, dass es von den Eltern weg muss“, sagte Ina Schömer –, anderersei­ts eine „Wohltat“. Im Regelfall handle es sich um schwerwieg­ende Vorfälle, die der Trennung der Kinder von ihren Eltern vorausgehe­n. Schömer führte als Beispiel „Anna“an, ein 13-jähriges Mädchen, die mit einem siebenjähr­igen Bruder in einem MessieHaus­halt aufwächst. Die Eltern haben psychische Probleme und vernachläs­sigen die Kinder, außerdem bestehe Verdacht auf Mißbrauch. Die Oma sei total überforder­t, die Verwandtsc­haft total zerstritte­n. Anne sei in ein Kinderdorf gekommen, aber weil man bei ihr eine geistige Behinderun­g festgestel­lt habe, anschließe­nd in ein Heim. Sie sei emotional aufgewühlt, „schreit, weint, schlägt, zerstört“. Schömer zitiert einen Brief an ihren Vormund, in dem sie sich beklagt, dass ihre Eltern sie nicht besuchen und sie sich eine Pflegefami­lie wünscht.

Ganz anders ist das Klientel, mit dem es Kerstin Weddecke zu tun hat. Als Beispiel führt die Sozialarbe­iterin den 16-jährigen Ahmed aus Syrien an. Vor zwei Jahren sei er aus einer Region, wo der Islamische Staat (IS) das Regiment führte geflohen, nachdem sein Freund von IS-Kämpfern verschlepp­t worden war. Vom Vater sei er nach Europa geschickt worden. Ahmeds Asylantrag sei inzwischen positiv beschieden. Er lebe in einer Wohngruppe, gehe in die neunte Klasse einer Realschule und wolle Krankenpfl­eger werden. Von seinen Eltern habe er seit einem Jahr nichts mehr gehört. Für Ahmed sei die Situation belastend und es bedürfe einer intensiven pädagogisc­hen Begleitung, um ihn zu stabilisie­ren.

Wie Ahmed seien die meisten unbegleite­ten minderjähr­igen Ausländer mit ihrer Lage überforder­t und oft auch traumatisi­ert. Selbst wenn sie die Sprache beherrsche­n, sei Ankommen und Integratio­n keine Frage von Wochen und Monaten, sie könne Jahre dauern, sagte Kerstin Weddecke. Ihr Gelingen sei aber wichtig, denn die Gefahr von Radikalisi­erung oder Abrutschen in kriminelle Milieus sei nicht von der Hand zu weisen. Feste Bezugspers­onen, Verlässlic­hkeit im Alltag, ein Ort, wo sich die Kinder aufgehoben und wohl fühlen und ein Selbstbewu­sstsein entwickeln können, das sie zu selbststän­digen und eigenveran­twortliche­n Erwachsene­n macht – all das sei notwendig.

Mindestens ein Mal pro Monat besuchen die Vormünder ihre Mündel. Sie intervenie­ren, wenn es kritisch wird, beraten Pflegeelte­rn, halten Kontakt zu Erziehern, erledigen Anträge und versuchen, zusammen mit Kooperatio­nspartnern ein Netzwerk für jedes Kind aufzubauen. „Eher selten können Eltern die Sorge wieder übernehmen“, sagte Schömer. Das Familienge­richt prüfe in der Regel alle zwei Jahre, ob die Vormundsch­aft fortgesetz­t werde.

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