Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Revolutionäre Gartenzwerge und blinde Flecken
Die Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“im Deutschen Historischen Museum Berlin
BERLIN - Die Russische Revolution des Jahres 1917 war ein Schlüsselereignis für das 20. Jahrhundert. Eine umfangreiche Ausstellung am Berliner Deutschen Historischen Museum (DHM) beschäftigt sich in 54 Kapiteln mit Vorgeschichte und Verlauf dieses Jahrhundertereignisses und seinen Folgen für Politik, Kultur und Kunstgeschichte in Europa und der Welt.
Wenn man nicht genau hinguckt, kann man sich im DHM leicht verlaufen und aus Versehen die Ausstellung von der falschen Seite her betreten. Wer von hinten anfängt, der sieht als Erstes Gregor Gysi, Marianne Birthler und Wladimir Kaminer, die persönliche Erkenntnisse zum Besten geben. Als Nächstes sieht man Gegenwartskunst wie das 1976 entstandene realistische Triptychon „Die Oktoberrevolution“des DDR-Malers Werner Schulz. Das Rot der Fahnen wie des brennenden Winterpalais ist hier feurig. Schräg gegenüber steht die Skulptur „Hero, Leader, God“des Russen Alexander S. Kosolapov. Ebenfalls in Rot, aber matter, wie ein gedämpfter Signalton, verbindet sie Gesten der sowjetischen Propaganda mit den gar nicht so anderen der PopArt: Gleich groß schreiten Lenin und Jesus da selbstbewusst einer unbekannten Zukunft entgegen, zwischen ihnen halten sie eine kindergroße Mickey Mouse an der Hand – wie beider Geschöpf. Wer von den dreien Gott, wer Held und wer Führer ist, das liegt im Auge des Betrachters.
So anzufangen macht also nichts, und vielleicht steckt hinter dem Irrtum ja die List einer tieferen Wahrheit – denn auf diese Weise durchkreuzt man gleich zu Beginn die brave historische Chronologie, in der jedes Ereignis eine Ursache hat, startet mit den Folgen und Mythen des Roten Oktober, und robbt sich im Krebsgang in die Tiefen der Vergangenheit zurück. Man beginnt mit Desillusionierung, Historisierung und nüchterner Bilanzierung von Soll und Haben, arbeitet sich durch Propaganda und Gegenpropaganda hindurch und spürt erst allmählich die Not und den Terror des Zarenreichs, die zum Gärstoff allen Aufruhrs wurden.
Trotzdem – wer weiß? – wäre es womöglich nie zu dieser Revolution gekommen, ohne die eskalierende Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg. Und ohne die deutsche oberste Heeresleitung, die in einem perfiden Geniestreich den emigrierten Berufsrevolutionär Wladimir Illitsch Lenin im April 1917 über die Frontlinien nach Russland reisen ließ, ganz bewusst als zusätzlichen Brandsatz und Zwietrachtsäer.
Zu dem Zeitpunkt hatten bürgerliche Liberale den Zaren in der Februarrevolution bereits gestürzt. „Entweder sind wir in sechs Monaten Minister oder wir hängen“, sagte Lenin seinerzeit in realistischer Einschätzung der Lage. Denn die Umstände seiner Rückkehr schürten den Verdacht, er sei ein deutscher Agent. Aber die radikalen Linken der Bolschewiki profitierten von der zögerlichen Politik der Regierung Alexander Kerenskijs und konkreten Fehlern, vor allem dem Weiterführen des verhassten, opferreichen Kriegs.
So kam es im Oktober (in westeuropäischer Zeitrechnung: November) zu jenen „Zehn Tagen, die die Welt erschütterten“, wie der amerikanische Journalist John Reed die Ereignisse in seinen Reportagen beschrieb, aus denen ein Bestseller wurde und ein Slogan, den die Sowjets sofort übernahmen.
Die Bolschewiki eroberten die Macht, und noch in der gleichen Nacht unterschrieb Lenin ein Dekret, mit dem sich das Russische Reich einseitig aus dem Weltkrieg zurückzog. Das kleine braune Blatt Papier, in dem Utopie und Wirklichkeit für einen Augenblick zusammenfielen, liegt in der Ausstellung aus.
Die übrige Hoffnung der Russen auf schnelle Befreiung aus Adelstyrannei und Rechtlosigkeit, Unrecht und schierer Not wurde in dem von allen Seiten brutal geführten Bürgerkrieg, der erst 1922 mit der Gründung der Sowjetunion endete, erschüttert. Trotzdem folgte ein Jahrzehnt des Aufbruchs und des Optimismus, in dem die revolutionäre Modernisierung durch die Sowjetmacht auf der ganzen Welt Hoffnung entfaltete. Erst die 1930er-Jahre und der Beginn des Stalinismus brachten Ernüchterung.
In 54 Kapiteln mit über 500 Objekten entfaltet die Ausstellung die verschiedenen Facetten und Folgen der Ereignisse. Das ist dicht, spannend, im Einzelnen faszinierend – zugleich fast schon etwas zuviel und oft genug beliebig bis verwirrend.
Dicht ist die Darstellung der Revolution in der deutschen Geschichte von den Morden der Anti-Bolschewisten an Luxemburg und Liebknecht, Eisner und Landauer, bis hin zur DDR-Diktatur, die sich auf 1917 berief. Spannend sind die Kapitel über Musik und Architektur der Revolution, faszinierend etwa der Abschnitt über die „Inszenierung der Revolution“und den Lenin-Kult. Und vieles ist einfach erst einmal schön wie zum Beispiel die Gemälde von Malewitsch und Rodtschenko.
Alles und nichts zugleich
Zugleich kann sich die Ausstellung nicht recht entscheiden, wo sie ihre Schwerpunkte setzen möchte. Zwischen den Polen des Möglichen will sie alles und nichts zugleich: Die Revolution und ihre Geschichte sollen ebenso dargestellt werden, wie ihre Wirkung und ihr Einfluss auf die Kunstgeschichte. Daher ist alles doch beschränkt und lückenhaft, zu wenig strukturiert und zu sehr vom Zeitgeist diktiert.
Die Tatsache, dass am Ende des Rundgangs der Museumsshop liegt, an dem man einen Marx aus Keramik ebenso erwerben kann wie einen revolutionären Gartenzwerg und allerlei Tand für den modernen Hipster, der mit Marx und Trotzki vor allem den Bart gemeinsam hat, ist daher verräterisch. Genauso wie die erwähnte Möglichkeit, die Schau aus beiden Richtungen her anzusehen: Der Kreis schließt sich, die Geschichte beginnt wieder von vorn. Nach der Revolution ist vor der Revolution.
Dauer: bis 15. April 2018. Öffnungszeiten: täglich 10-18 Uhr (außer 24.12.). Zur Ausstellung sind zwei umfassende Publikationen erschienen. Weitere Infos: