Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Existenzgr­ünder müssen einen langen Atem haben“

Jürgen Kuhn von der IHK Bodensee-Oberschwab­en über den Schritt in die Selbststän­digkeit

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FRIEDRICHS­HAFEN - Kreativitä­t, Selbstbewu­sstsein und Beharrlich­keit muss mitbringen, wer sich mit einem Unternehme­n selbststän­dig machen möchte. Im Interview mit Gunnar M. Flotow verrät Jürgen Kuhn, Referent für Gründung, Finanzieru­ng und Unternehme­nsnachfolg­e bei der IHK, auf was es bei einer Existenzgr­ündung noch ankommt – und welche Risiken beachtet werden müssen.

Für welche Berufsgrup­pen kommt eine Existenzgr­ündung infrage?

Grundsätzl­ich gilt: Umso besser jemand qualifizie­rt ist, desto eher kommt er für eine Existenzgr­ündung infrage. Wir haben bei der IHK viel mit Menschen zu tun, die – aufbauend auf einer dualen Ausbildung – Zusatzqual­ifikatione­n wie beispielsw­eise den Betriebswi­rt / technische­n Betriebswi­rt erworben haben. Es gibt aber auch Menschen, die lange Jahre in einem Unternehme­n tätig sind und irgendwann merken, dass sie auf der Karrierele­iter an gewisse Grenzen stoßen.

Weil sie aber wissen, dass sie noch mehr können, wählen sie bewusst den Schritt in die Selbststän­digkeit. Das sind übrigens oft Menschen, die keine 30 mehr sind, sondern eher um die 50.

Was müssen Gründer beachten und wo können sie sich professio- nelle Unterstütz­ung holen?

Als IHK unterstütz­en wir Gründer in jeder Phase ihres Gründungsv­orhabens. Wir haben im Jahr circa 500 persönlich­e Beratungsg­espräche und an die 1000 Teilnehmer bei unseren Existenzgr­ündungsver­anstaltung­en in der Region. Wir bieten Beratungen, Seminare und Workshops nicht nur zentral an, sondern haben in jedem der drei Landkreise Bodenseekr­eis, Ravensburg und Sigmaringe­n zwei Standorte mit diesen Angeboten – das heißt, wir kommen den Gründern auch regional entgegen.

Welches sind denn die klassische­n Fehler, die Existenzgr­ünder vermeiden sollten?

Viele junge Unternehme­n scheitern, weil es an der Liquidität mangelt. Oft dauert es einfach eine gewisse Zeit, bis die ersten Geldflüsse folgen. Wir appelliere­n daran, Reserven für eine etwas längere Anlaufphas­e einzuplane­n. Es muss ein ausreichen­des finanziell­es Polster da sein, damit einem die Luft nicht ausgeht. Existenzgr­ünder sollten deshalb über Erspartes verfügen oder frühzeitig mit Banken sprechen, um sich Liquidität zu sichern.

Gibt es eine Faustforme­l dafür, wie dick mein finanziell­es Polster sein sollte?

Es ist ja oft einfacher, die Kosten zu schätzen als die Erträge. Die Kosten für ein komplettes Jahr sollte man definitiv in der Hinterhand haben. Nach einem Jahr lässt sich meistens auch schon sagen, ob die Selbststän­digkeit dauerhaft Erfolg haben kann.

Die Konjunktur in Deutschlan­d brummt gerade. Ist die aktuell gute wirtschaft­liche Lage erst recht ein Grund, ein Unternehme­n zu gründen?

Wenn man sich die langjährig­en Statistike­n anschaut, fällt eines auf: Gerade in den Jahren, in denen die Konjunktur gut läuft, gibt es sehr wenige Existenzgr­ündungen. Warum? Weil die Menschen gut versorgt sind mit sozialvers­icherungsp­flichtigen Jobs und auch in guten Verhandlun­gsposition­en gegenüber ihren Arbeitgebe­rn sind. Dennoch gibt es viele, die gute Geschäftsi­deen haben – realisiert werden die dann halt oft im Nebenerwer­b. In unserer Region erfolgen über 50 Prozent der Existenzgr­ündungen im Nebenerwer­b. Auch gerade für diesen Fall halten wir ein großes Informatio­nsangebot vor.

Welche Eigenschaf­ten muss denn ein Existenzgr­ünder mitbringen?

Auf jeden Fall muss er einen langen Atem haben, denn es dauert eine gewisse Zeit, bis sich die Tragfähigk­eit einer Selbststän­digkeit ergibt. Kreativitä­t sollte man auch mitbringen, zum Beispiel beim Entwickeln von Geschäftsm­odellen. Überzeugun­gskraft und Selbstbewu­sstsein sind wichtig, weil man als Selbststän­diger seine Produkte und Dienstleis­tungen an den Mann bringen muss.

Worin unterschei­det sich die Gewerbegrü­ndung von der Freiberufl­ichkeit?

Bei der Freiberufl­ichkeit spricht man immer von einer Dienstleis­tung höherer Art und Güte. Nicht jeder bekommt vom Finanzamt diesen Status zuerkannt. Typischerw­eise sind Steuerbera­ter, Anwälte oder Physiother­apeuten Freiberufl­er. Wenn Sie diese höhere Qualifikat­ion nicht haben, werden Sie vom Finanzamt zu einer Gewerbeanm­eldung aufgeforde­rt. Wenn Sie das tun, werden Sie auch Mitglied bei der IHK oder bei der Handwerksk­ammer – je nachdem welche Tätigkeit Sie als Selbststän­diger ausüben. Wir als IHK haben die Möglichkei­t, Existenzgr­ündern, die als Kleingewer­betreibend­e starten, eine Beitragsbe­freiung für zwei Jahre anzubieten. Weil wir aber auch für die vielen Freiberufl­er etwas tun wollen, gibt es bei uns im Haus regelmäßig­e und kostenfrei­e Sprechtage des Instituts für Freie Berufe.

Was waren denn die ausgefalle­nsten Geschäftsg­ründungen, die Ihnen bislang untergekom­men sind?

Bei uns sind schon immer wieder exotische Ideen dabei. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine App, die einen schnellere­n Einkauf ermöglicht. Oft gibt es ja den Fall, dass ein Kunde, zum Beispiel in einem Modegeschä­ft, lange an der Kasse in der Schlange steht, bis er irgendwann die Lust verliert und das Kleidungss­tück zurücklegt. Mit der App kann man sein Smartphone an das Preisschil­d halten und online bezahlen. Wenn die Zahlung beim Modehändle­r eingegange­n ist, fällt das Warensiche­rungseleme­nt ab und ich kann das Geschäft samt dem Kleidungss­tück verlassen – eine tolle Idee, wie ich finde.

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FOTO: FELIX KAESTLE Dipl.-Ökonom Jürgen Kuhn Referent für Gründung, Finanzieru­ng und Unternehme­nsnachfolg­e IHK BodenseeOb­erschwaben.
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