Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Helles Licht in heiliger Nacht
Die spätgotische Christgeburtstafel des Bingener Altars aus der Ulmer Schule
Neben Kreuzestod und Auferstehung ist Jesu Geburt das wichtigste Ereignis im Christentum. Gott schickt seinen Sohn auf die Welt, damit dieser die Menschheit von der Erbsünde befreit. Auf diesem Opfer lag über Jahrhunderte auch das Hauptaugenmerk der Kunst. Gegen Ende des Mittelalters aber rückte das Geschehen im Stall von Bethlehem mehr und mehr ins Blickfeld, ausgeschmückt durch Geschichten aus den Apokryphen sowie fromme Legenden, und die Künstler waren in ihrem Element.
Gerade im Raum Ulm/Oberschwaben gibt es eine Fülle an wunderschönen spätgotischen Darstellungen der Heiligen Nacht. Eine der anrührendsten findet sich auf dem um 1505 geschaffenen Hochaltar der Kirche von Bingen bei Sigmaringen.
Im Zentrum kniet kostbar gewandet Maria, vor ihr liegt das nackte Kind. Die Krippe fehlt, und obwohl Nacht ist, scheint alles in helles Licht gerückt. Von größtem Einfluss war zu jener Zeit eine Vision der heiligen Birgitta von Schweden auf ihrer Bethlehem-Reise 1372. Maria habe ihr die Geburt genau beschrieben: wie sie in Windeseile niederkam, wie sie vor dem Kind auf die Knie sank, und wie von dem kleinen Jesus am Boden ein strahlendes Licht ausging. Das war fortan die Vorlage für die Künstler. Und wie fein sie Gefühle wiederzugeben wussten, lässt sich an Marias Gesicht ablesen. Ernst schaut sie, fast traurig – wie wenn sie sich schon des Schicksals dieses Säuglings bewusst wäre.
Hohe Kunst
Hinter Mutter und Kind kniet Josef, gefasst, sich seiner Rolle als Nährvater bewusst. Über ihm schweben Engelchen mit ihrem Schriftband „Gloria in excelsis deo“. Ochs und Esel lagern ganz nahe bei dem Kind – vielleicht aus Neugier, vielleicht aber auch, um das Kind mit ihrem Atem zu wärmen. Zwei Hirten sind schon da, den anderen aber wird hinten auf dem Feld noch die Frohbotschaft verkündet. Hohe Kunst mit genrehaften Zügen.
Die brillant gemalte Tafel gehört zu einem um 1790 abgebrochenen, heute wieder teilrekonstruierten Altar der Ulmer Schule, mit gemalten Flügeln, fünf herausragend geschnitzten Figuren im Schrein sowie einer Predella und drei Nebentafeln. Dem großen Ulmer Niklaus Weckmann lässt sich die bildhauerische Arbeit zuschreiben. Bei der Malerei diskutiert die Kunstwissenschaft seit langer Zeit, ob sie vom Ulmer Bartholomäus Zeitblom stammt, vom „Meister des Pfullendorfer Altars“, oder ob beide ein und dieselbe Person sind.
Diesem grandiosen Kunstwerk gilt nun erstmals eine Monographie. Geschrieben hat die enorme Fleißarbeit der frühere Diözesanmuseumsdirektor Wolfgang Urban. Und das große Verdienst des von Reiner Löbe bestechend bebilderten Bandes ist die detailreiche Schilderung des theologischen Hintergrunds.
Wolfgang Urban. Einer Kathedrale würdig. Das Meisterwerk des Bingener Altars.
Fotos von Reiner Löbe. Kunstverlag Fink. 64 Seiten. Euro 19.90.