Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Die Terrormiliz IS bleibt für den Irak gefährlich
Experten sind allerdings uneinig, wo die Kämpfer nach ihrer militärischen Niederlage untergekommen sind
RAVENSBURG - Der sogenannte Islamische Staat (IS) gilt im Irak als militärisch geschlagen. Gefährlich ist die Terrororganisation allerdings weiterhin, darin sind sich NahostExperten einig.
Tausende junge Männer schlossen sich in den vergangenen Jahren der Terrormiliz an. Nicht nur Iraker und Syrer kämpften für den IS, zahlreiche Anhänger kamen auch aus dem Ausland, zum Beispiel aus Tunesien und Saudi-Arabien. Aus Deutschland reisten 950 Menschen nach Syrien oder in den Irak, um für den IS in den Krieg zu ziehen. Inzwischen ist der Großteil der IS-Kämpfer tot, ein Teil der Überlebenden soll ins Ausland abgewandert sein. Wo sich die selbsternannten Gotteskrieger genau aufhalten, ist allerdings ungeklärt.
Günter Meyer, Nahost-Experte an der Universität Mainz, ist sich sicher: „Die irakischen Anhänger des IS sind im sunnitischen Kernraum im nordwestlichen Bereich des Irak untergetaucht, leben dort integriert in ihren Dörfern und können von den Sicherheitskräften kaum noch bekämpft werden.“
Die Nachbarn wüssten Bescheid, dass die IS-Kämpfer dort untergetaucht seien, würden aber nicht gegen sie vorgehen. Weil die Sunniten im Irak etliche Male Opfer schiitischer Unterdrückung und Gewalt wurden, würden sie eher weitere Angriffe der Schiiten fürchten als die ISRückkehrer, sagt der Nahost-Experte. Ins angrenzende Syrien seien keine Kämpfer abgewandert. „Die syrischen Grenzgebiete im Osten werden von Kurden und Assad-Truppen kontrolliert. Für nicht-einheimische IS-Kämpfer gibt es dort kaum Möglichkeiten zum Untertauchen. Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, dass irakische Dschihadisten sich dort verstecken“, sagt Meyer.
Exekution war üblich
Belkis Wille ist Irak-Expertin bei der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW). Sie ist im Irak ansässig und schätzt die Situation anders ein. „Nur sehr wenige ISKämpfer sind noch am Leben – und von denen sind viele nach Syrien geflohen“, sagt sie. Diejenigen, die noch im Irak sind, seien rangniedrig innerhalb der Terrororganisation. Köche oder Ärzte, die für den IS gearbeitet hätten und denen jetzt der Prozess gemacht werde. „Die übliche Vorgehensweise der irakischen Truppen war Exekution. Wer für den IS gearbeitet hat, wurde umgebracht“, sagt Wille.
Zahlreiche Gruppen haben in den vergangenen Jahren im Irak Gewalt verübt und erlebt. Wegen wechselnder Allianzen und Streitigkeiten unter diesen Gruppen, ist die Lage im Land unübersichtlich. Kaum einer traue sich zurück in die Heimatdörfer und -städte – entweder aus Angst vor Rache früherer Opfer oder aus Angst vor früheren Peinigern, sagt Jan Jessen, Politikchef der in Essen erscheinenden „Neuen Ruhr Zeitung“, der regelmäßig im Irak vor Ort ist. Im syrisch-irakischen Grenzgebiet kämpften weiterhin IS-Anhänger. „Ungefähr 3000 IS-Leute sollen da noch aktiv sein, und auch die IS-Führung soll sich dahin abgesetzt haben“, sagt Jessen. Insbesondere in der nordirakischen Stadt Mossul vermutet er noch zahlreiche Schläfer, „die einfach ihre Bärte abrasiert haben und behaupten, nichts mit dem IS zu tun zu haben“. Er geht davon aus, dass jetzt häufiger mit Anschlägen früherer IS-Kämpfer zu rechnen ist.
5000 Jesiden wagen Heimkehr
Das ist auch die Furcht vieler Jesiden und Christen im Irak: „Sie haben Angst, dass sie auf die IS-Leute treffen, die sie misshandelt haben“, sagt HRW-Expertin Wille. Die kurdischen Truppen, die bis vor kurzem noch in der früheren Heimat der Jesiden stationiert waren, sind laut Jessen seit Oktober weg. „Sie haben sich wegen der politischen Streitigkeiten mit Bagdad zurückgezogen.“Dafür seien 70 Brigaden einer iranisch-gesteuerten Miliz eingezogen. Auch die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK sei weiterhin in der Region. „Weil die Türken das Ziel haben, die PKK zu vernichten, ist in der Region auch mit Luftangriffen zu rechnen“, sagt Jessen.
Viele Gebäude unbewohnbar
Dennoch sind etwa 5000 Jesiden in die Heimat im Shingalgebirge zurückgekehrt. Die früheren Städte sind zerstört, mindestens 70 Prozent der Gebäude unbewohnbar. Doch weil die verschiedenen, teilweise zerstrittenen Gruppierungen in ihrer Heimat die Kontrolle übernehmen wollen, können viele Jesiden nicht mehr in die Flüchtlingsunterkünfte im Nordirak, die sie verfrüht verlassen haben, zurück. Sie sitzen nun in ihrer zerstörten Heimat fest (die „Schwäbische Zeitung“berichtete).
Einig sind sich die Experten in einem: Der IS ist noch nicht besiegt. Ob es in Zukunft weiterhin Terror im Irak geben wird, hänge von der schiitischen Regierung ab. „Wenn es weitere Verfolgungen und Verhaftungen gibt, wird der Widerstand in der sunnitischen Bevölkerung wachsen und das Risiko ist groß, dass viele der Sunniten sich mit den Dschihadisten solidarisieren und Terroranschläge wieder zunehmen“, sagt der NahostExperte Meyer. Die Unterdrückung der Sunniten sei der Grund gewesen, warum sich der „Islamische Staat“überhaupt erst erheben konnte. Solange sich die Sunniten im Irak diskriminiert und verfolgt fühlen, sagen Meyer und Wille, bleibt die Terrororganisation gefährlich.