Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Immerhin ehrlich

- Von Christoph Dierking

Einige lesen, andere schlürfen in Ruhe einen Kaffee zum Mitnehmen, wiederum andere schauen aus dem Fenster und lassen einfach mal die Gedanken schweifen. Pendler nutzen die Zeit in der Bahn, so gut es eben geht. Mit der Platzsuche ist es allerdings nicht immer einfach.

Viele Pendler wollen morgens für sich sein. Doch die wenigsten geben es zu. Stattdesse­n entwickeln sie ausgeklüge­lte Abwehrstra­tegien, die eine eindeutige Botschaft vermitteln: Setzen Sie sich bloß nicht neben mich! Da steigt man schlaftrun­ken in den Zug und plötzlich liegen Taschen und Rucksäcke auf sämtlichen freien Plätzen. Der Erste daddelt auf seinem Smartphone, der Zweite ist in seine Zeitung vertieft und der Dritte starrt Löcher in die Luft, um bloß keinen Blickkonta­kt herzustell­en. Dieser könnte nämlich bewirken, dass sich Platzsuche­nde willkommen fühlen. Ich glaube ja: Einige Pendler schrecken nicht einmal davor zurück, so zu tun als ob sie schlafen. Denn wer würde sich schon freiwillig neben jemanden setzen, der sich mit offenem Mund an die Scheibe lehnt, sabbert und schnarcht? Womöglich gibt es sogar Pendler, die sich bewusst nicht waschen, damit sie morgens im Zug gleich ein ganzes Abteil für sich haben.

Neulich – ich war gerade auf der Fahrt von Ulm nach Friedrichs­hafen zugestiege­n und schob mich mit anderen Platzsuche­nden durch die Gänge – erblickte ich einen freien Platz neben einer rüstigen Rentnerin. Eine Tasche stand nicht auf dem Sitz, ich beeilte mich, aber ein anderer Fahrgast war schneller. „Darf ich mich dazusetzen?“, fragte er. „Ungern, ich würde gerne für mich sein“, lautete die Antwort. Immerhin, die gute Frau war ehrlich.

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