Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Täter von Lüttich auf Gefährderliste
In der ehemaligen IS-Kommandozentrale Rakka richten sich die Menschen zwischen den Trümmern ein
BRÜSSEL (dpa/AFP) - Der Mann, der am Dienstag im belgischen Lüttich zwei Polizistinnen und einen 22-jährigen Zivilisten getötet hat, soll den Behörden bereits als Gefährder bekannt gewesen sein. Mehrere Medien berichteten zudem, es habe sich bei dem mutmaßlichen Islamisten um einen Haft-Freigänger gehandelt. Die Ermittler vermuten einen terroristischen Hintergrund, wie die zuständige Staatsanwaltschaft mitteilte. Der Täter war von Sicherheitskräften getötet worden.
RAKKA - Die Stadt liegt noch immer in Trümmern. Die Menschen in Rakka richten sich ein unter dem Schutz der kurdisch dominierten „Syrisch Demokratischen Front“(SDF) und der westlichen Alliierten. Rakka galt bis zur Befreiung am 17. Oktober 2017 als wichtigster militärischer Stützpunkt des „Islamischen Staates“(IS). Die syrische Stadt liegt im Fadenkreuz der Groß- und Regionalmächte. Und ein Gespenst geht um: die Wiederkehr des IS.
Mohammed al Fahad blickt auf den Kreisverkehr der Hölle, während er seine Mixer reinigt. Er verkauft Fruchtsäfte an dem Platz im Zentrum von Rakka, wo der IS noch bis vergangenen Oktober die Köpfe seiner Opfer auf Zaunlatten aufgespießt hat. „Sie haben uns gezwungen, alles mitanzusehen, die Folter, die Hinrichtungen“, sagt der Mann aus der ehemaligen IS-Stadt in Syrien.
Al Fahad hat gerade wieder keine Kundschaft. Abends wird er die ziemlich leere Kasse einpacken und mit einem Motorroller über die schuttbedeckten Straßen zu seinem Haus in einem Vorort von Rakka fahren. Zwei Kinder und seine Frau warteten dort, erzählt er, Aber der Vater bringt kaum Einkommen mit heim.
Kaum jemand macht ein Geschäft in der Trümmerstadt. „Vor dem Krieg war ich Ingenieur“, sagt al Fahad. Er trägt eine lederne Armbanduhr und ein cremefarbenes Leinenhemd. Er wirkt wie ein Geist, der sich aus einer besseren Vergangenheit in den Schmutz und die Düsternis der Gegenwart verrirrt hat. Al Fahad erscheint abwesend, als er erzählt, wie es war in seiner Stadt, die, so formuliert er, der Teufel in Besitz genommen hat. Als hätte sich ein Teil von ihm während all der Gräuel auf und davon gemacht in jene Zeiten, die vorbei sind.
Zu Staub zerfallen
„Wissen Sie, wir waren mal gebildete Leute, wir hatten eine Universität und kulturelles Leben“, sagt er, und dann redet er nicht weiter. Der Augenschein reicht aus für die triste Gegenwart: Alles ringsherum ist zu Staub zerfallen. Was die Zukunft bringt? Über die Verwaltung der Trümmer Rakkas unter der Ägide der kurdisch-arabischen SDF könne er nicht klagen, sagt er. Was solle sie angesichts der Verwüstung auch mehr ausrichten, als das nackte Überleben zu sichern. Vielleicht übernehmen auch die Truppen von Baschar al-Assad die Stadt wieder, meint er, wer wisse das schon im Moment. Es ist ihm auch einerlei. Solange er niemals wieder mit ansehen müsse, wie Schwerter Köpfe von Hälsen trennen, danke er Gott. „Mein Kopf war immer auf Reisen, als das alles passiert ist. Ich war woanders“, sagt er. Auch jetzt, so scheint es, ist er noch nicht angekommen in seiner zerstörten Welt.
Es gibt die unterschiedlichsten Arten, wie Betonmauern und Stahlträger brechen, verbiegen oder in Stücke reißen können. Eine Stadt, die vor dem Krieg mehr als 200 000 Einwohner hatte, wirkt nun in Teilen wie planiert. Anderswo türmen sich Schutt und Metallteile zu Bergen in Haushöhe auf. Dazwischen gibt es Zonen mit halb eingestürzten Bauten. Stockwerke liegen bisweilen aufeinander geschichtet wie welke Salatblätter in einem Sandwich. Immerhin: Wo die Ruinen stehen, lässt sich noch erkennen, dass es eine Stadt gab und nicht Wüste seit Urzeiten. Einwohner tragen in den halb oder ganz eingestürzten Gebäuden die Trümmer mit Schaufeln ab. Sie hämmern und sägen, andere steuern Bulldozer, um Schutt von den Straßen in die Bombenkrater zu schieben.
Die Männer müssen Minen oder Sprengfallen aus dem Weg gehen. Sie finden nach Monaten immer noch Leichen, nicht nur Knochen. Es sind die namenlosen Toten der allierten Luftangriffe. Die Getöteten finden ihre letzte Ruhestätte in Gruben. Der Verwesungsprozess verzögere sich, wenn Tote ohne Sauerstoffzufuhr begraben sind, erklärt ein Helfer der sogenannten „Emergency Units“, der Noteinsatzteams der neuen Zivilverwaltung am Straßenrand. Der Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und zündet sich eine Zigarette an. „Jeden Tag, wenn wir graben, fängt es irgendwo fürchterlich zu stinken an“, sagt der Mann. „Das ist, wie wenn ein Sack fauler Melonen angestochen wird“, meint er und raucht weiter.
150 000 Menschen sollen laut Angaben der neuen Stadtverwaltung von Rakka sich zumindest tagsüber in den Ruinen der Stadt aufhalten, um ihre Geschäfte wiederzueröffnen. Die meisten kehren nachts in die Vororte oder Dörfer in der Umgebung zurück. Rakka war vor dem Krieg keine arme Stadt. Viele Bewohner haben ein Landhaus, das die Kämpfe und Bombardements der Anti-IS-Koalition, überlebt hat. Wer weniger Glück hatte, muss unter Zeltplanen leben in Camps.
Viele Einwohner kommen auf Eselrücken in ihre zerstörte Stadt, um etwas zu verdienen. Und viele eröffnen in den Ruinen Läden und hoffen, dass andere, die genauso wenig haben wie sie, etwas kaufen. Andere bauen als Angestellte der neuen Zivilverwaltung die Stadt wieder auf. Doch es fehlt an allem: Werkzeug, Maschinen und Lohn für die harte und lebensgefährliche Arbeit. Nirgends sind die Jeeps mit den Logos der internationalen Hilfsorganisationen zu sehen. Die halbe Welt hat diese Stadt bombardiert. Doch jetzt scheint sie sich selbst überlassen.
Die neue Bürgermeisterin der Stadt will nicht an ihrem Schreibtisch fotografiert werden. Leila Mustafa bleibt lieber auf dem Sessel gegenüber dem Sofa sitzen. Dort sitzen die Bürger und tragen ihre Klagen über das Fehlen von Strom oder Trinkwasser vor. Einer nach dem anderen wird empfangen und so geht es endlos, Stunde um Stunde. Besser also, Mustafa bleibt, wo sie ist. Im Oktober 2017 kehrte die in Rakka geborene Kurdin mit der SDF in ihre Heimatstadt zurück. Gemeinsam mit einem Araber leitet sie nun die provisorische Verwaltung. Wenn die Stadt wieder lebt oder zumindest Stadt genannt werden kann, soll sie durch ein gewähltes Gremium ersetzt werden, erklärt die Bürgermeisterin. Frau, Kurdin und ohne Kopftuch – und das in einer Stadt, in der Dschihadisten Peitschenhiebe versetzten, wenn Frauen Knöchel entblößten. Es klingt nach einem gewagten Experiment. Doch Mustafa sieht es anders. „Die Menschen haben es so satt“, sagt sie. Sie meint den religiösen Fanatismus, das Sektierertum, die Heuchelei. Ihre Stadtverwaltung will blind sein für Religionsoder Volkszugehörigkeit, für das Geschlecht.
Ruf nach internationaler Hilfe
Wie das funktioniert, zeigt sich im Vorzimmer der Bürgermeisterin. Drei Mitarbeiterinnen erklären in der traditionellen Dschellaba gekleideten Stammesvertretern, sie können sich jetzt ruhig auch mal gedulden, bis die Frau Bürgermeister Zeit für sie hat. Die Herren nehmen widerspruchslos Platz. Leila Mustafa kann sich auch nicht so recht erklären, wo die internationale Hilfe bleibt. Die Amerikaner, die in der Stadt Patrouille fahren, liefern manchmal schweres Gerät. Das war es auch schon, was von außen komme, sagt sie. Rakka und andere vom IS befreite arabische Städte und Dörfer hängen am Tropf der autonomen Kurdenregion Rojava in Nordostsyrien. Dort hat die PYD-Partei das Sagen. Sie ist der Ideologie des PKKChefs Abdullah Öcalan verbunden.
Die Türkei hat ihre Grenze zu Rojava geschlossen. Im Ergebnis geht es Rojava wirtschaftlich schlecht. Es muss nun auch noch die dem IS entrissenen Gebiete vor einem humanitären Desaster bewahren. Bürgermeisterin Mustafa fürchtet, dass sie den Wettlauf mit der Zeit verliert. Angesichts all der Leichen in der Stadt drohen Epidemien. „Im Sommer wird es Seuchen geben“, sagt sie.
Eine weitere Bedrohung ist die schwierige militärische Lage der SDF. Die kurdischen Verbände zogen sich aus dem Osten Syriens zurück, als die Türkei im Januar den bis dahin zu Rojava gehörenden Kanton Afrin im Nordwesten Syriens angriff. Viele Kämpfer blieben seitdem entlang der Grenze zur Türkei. Südlich und östlich von Rakka steht die SDF zwei Gegnern gegenüber. Die verbleibenden Zellen des IS und proiranischer Milizen, die loyal zu Assad sind und von Russland unterstützt werden.
Der IS wie auch die Assad-Regierung wollen Rakka unter ihre Kontrolle bringen. „Wir erwarten, dass sie in den kommenden Monaten wieder hier aktiv werden“, sagt die Bürgermeisterin. Im Sommer, wenn die Seuche droht, könnte auch der alte Feind wieder zurückkehren.