Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Nowitschok-Attentat offenbart gefährliche Sicherheitslücken
Unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen ist am Montag das Nowitschok-Opfer von Salisbury beigesetzt worden. Dawn Sturgess, 45, war zu Monatsbeginn offenbar das verspätete Opfer eines mysteriösen Anschlags mit dem chemischen Kampfstoff, der eigentlich dem russischen Überläufer Sergej Skripal, 67, gegolten hatte.
Das Übergangsheim für Obdachlose mitten in dem südenglischen Städtchen, in dem das Mordopfer zuletzt gelebt hatte, ist nach Abschluss der kriminaltechnischen Untersuchung wieder geöffnet. Hingegen geht die Untersuchung im Park am Ufer des Avon-Flusses weiter. Dort hatte Sturgess den letzten Abend vor ihrer Vergiftung mit ihrem Lebensgefährten den Sommerabend verbracht, ehe sie gemeinsam zur Wohnung ihres Lebensgefährten Charlie Rowley im zwölf Kilometer entfernten Amesbury fuhren – wo beide mit dem Gift Nowitschok in Kontakt kamen. Es befand sich in einem Fläschchen. Sturgess starb später, Rowley überlebte.
Die Ereignisse von Ende Juni wirkten auf die Menschen vor Ort wie eine Kopie der Geschehnisse Anfang März. Damals waren auf einer Parkbank mitten in Salisbury der von Großbritannien aus russischer Haft freigekaufte Überläufer Sergej Skripal, damals 66, und seine 33-jährige Tochter Julia bewusstlos aufgefunden worden. Beide konnten nach wochenlanger Behandlung entlassen werden; öffentliche Erklärungen haben sie nie abgegeben.
Das örtliche Spital war besser auf den Umgang mit Kampfstoffen vorbereitet als vergleichbar große Krankenhäuser, weil Salisbury nur je zehn Kilometer vom ABC-Labor Porton Down sowie von der ABC-Ausbildungsstätte der britischen Streitkräfte entfernt liegt. Bei dem Städtchen handele es sich um „den wichtigsten militärischen Knotenpunkt Südenglands außerhalb London“, sagt Geheimdienst-Experte Anthony Glees, Politik-Professor an der University of Buckingham.
Dass Skripal dort 2011 für eine sechsstellige Summe in bar ein Haus erwarb, könnte darauf hindeuten, dass er auch weiterhin geheimdienstlich tätig war. Im Fall der Skripals war die Mordwaffe offenbar auf die Türklinke von Sergejs Haus geschmiert, wie sich den spärlichen Informationen der Kripo entnehmen lässt.
E-Mail-Verkehr überwacht
Fachleuten zufolge liegt die restriktive Informationspolitik daran, dass der Fall gefährliche Sicherheitslücken offenbart habe, die von den britischen Behörden nicht gern öffentlich gemacht werden. So hielt der Inlandsgeheimdienst MI5 den 2010 aus russischer Haft entlassenen Ex-Angehörigen des russischen Militärdienstes GRU und Doppelagenten für den britischen MI6 offenbar für ungefährdet. Dabei hatten GRU-Spezialisten bereits seit 2013 den E-Mail-Verkehr von Julia Skripal überwacht, wie der Nationale Sicherheitsberater Mark Sedwill im April der Nato mitteilte. Die Abhörzentrale GCHQ sucht mittlerweile per Anzeige nach russisch sprechenden Mitarbeitern.
London hat schon früh Moskau für den Anschlag verantwortlich gemacht; die Vorwürfe führten zur Ausweisung von 140 russischen Diplomaten durch Großbritannien und seine Verbündeten und die gleiche Anzahl westlicher Diplomaten aus Russland; die Mehrheit der Betroffenen dürften Spione sein.