Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Es ist gut, dass das Strafmaß im oberen Bereich der Höchststrafe liegt“
Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, sieht im Staufen-Prozess „ein wichtiges Signal“und kritisiert die Behörden
BERLIN - Johannes-Wilhelm Rörig, unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, übt harsche Kritik an den Behörden im Fall Staufen. Das Wohl des Jungen sei „absolut unter die Räder gekommen“. Petra Sorge hat mit Rörig gesprochen.
Herr Rörig, die Mutter des jahrelang schwer missbrauchten Jungen in Staufen wurde zu zwölfeinhalb, ihr Lebensgefährte zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Beide hatten das Kind auch im Darknet anderen Pädophilen zum Verkauf angeboten, sechs Angeklagte erhielten teils hohe Haftstrafen. Wie bewerten Sie das Urteil und die gerichtliche Aufarbeitung des Falls?
Es ist gut, dass das Strafmaß im oberen Bereich der Höchststrafe liegt und der hochgefährliche Haupttäter Sicherungsverwahrung bekommen hat. Das Landgericht Freiburg hat den Missbrauchsfall Staufen auch sehr schnell behandelt. Das ist ein wichtiges Signal.
Jugendamt und Justiz haben das Kind jahrelang nicht vor der brutalen Vergewaltigungsserie geschützt. Wie konnte es zu solch einem Versagen kommen?
Im Zusammenspiel der hier entscheidenden Behörden – Jugendamt, Familiengericht und Ermittlungsbehörde – ist das Wohl des Jungen absolut unter die Räder gekommen. Man hat sich weder vernetzt noch die notwendige Sensibilität gezeigt. Gesetzlich vorgesehene Mitteilungspflichten auch über Neustraftaten sind nicht weitergeleitet worden. Die Auflage, dass sich der Haupttäter dem Kind in der Wohnung nicht nähern darf, ist nicht kontrolliert worden. Der Junge wurde auch vom Gericht nicht angehört und ihm wurde kein Verfahrensbeistand zugeordnet. All das hat mich schwer erschüttert. Umso wichtiger ist nun die Aufarbeitung der vielen Versäumnisse.
Was fordern Sie konkret?
Familienrichter müssen bessere Kenntnisse über alle Fragen des Kindeswohls haben und geradezu Spezialisten für innerfamiliäre Konfliktsituationen werden. Heute ist es so, dass man schon nach einem Jahr Probezeit Familienrichter werden kann. Es sind keine weiteren Kenntnisse notwendig. Insolvenzrichter dagegen müssen Kenntnisse im Handels-, Gesellschafts- und Arbeitsrecht nachweisen. Daher fordere ich strengere Einstiegsvoraussetzungen in den Beruf des Familienrichters sowie eine gesetzliche Fortbildungspflicht. Auch müssen die Jugendämter dringend personell besser ausgestattet werden. Hier rächt sich, dass sie vielerorts kaputtgespart wurden.
Was sollte die Politik tun?
Die Landesregierung Baden-Württemberg muss den Fall umfassend politisch aufarbeiten. Aber nicht nur intern, sondern unter Hinzuziehung externer Spezialisten. Alle Fehlentscheidungen müssen benannt werdie den. Da sehe ich auch den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in der Pflicht. Das ist ein Fall von bundesweitem Interesse, und er ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir wissen von 12 000 Fällen von Kindesmissbrauch pro Jahr, die Dunkelziffer geht in die 100 000. Die strukturellen Fehler, die hier aufgetreten sind, können sich überall wiederholen. Deswegen erwarte ich eine Initiative des Landes Baden-Württemberg für den Kinderschutz.
Im Darknet stoßen Polizeiermittler bislang häufig an Grenzen, da in vielen Foren sogenannte Keuschheitsproben verlangt werden. Mit computergenerierten Animationen könnte die Polizei täuschend echte Missbrauchsbilder hochladen, doch das ist bislang verboten. Sollte das erlaubt werden?
Ja, hier sollten das Bundesjustiz- und -innenministerium schnell für gesetzliche Klarheit sorgen. Bislang begehen Ermittler eine Straftat, wenn sie solche Bilder hochladen. Wenn sie aber Keuschheitsproben hochladen dürften, würde das ihre Arbeit sicher erleichtern. Ich bin froh, dass Justizministerkonferenz in der vergangenen Woche einen ersten Vorschlag zur Reform vorgelegt hat.
Als Missbrauchsbeauftragter beobachten Sie auch, wie die Empfehlungen des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“umgesetzt werden. Wie bewerten Sie den Fortschritt?
Wir sind einige Schritte vorangekommen. Aber wir haben noch keine flächendeckende Hilfe für Betroffene sexueller Gewalt in der Kindheit. Mit Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey arbeiten wir aktuell an gemeinsamen Projekten und Initiativen. Ich habe mich auch sehr gefreut, dass mir Bundeskanzlerin Angela Merkel hier ihre Unterstützung in den nächsten Jahren zugesagt hat.
Und wer kümmert sich nun um den Jungen aus Staufen?
Er ist bei Pflegeeltern in der Betreuung. Die Nebenklagevertreterin hat Kontakt zu ihm. Es ist nun ganz wichtig, dass der Junge gut therapeutisch begleitet wird, damit er schnell seinen Weg zurück in ein normales Leben findet.