Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Wenn Minka kommen muss
Osteuropäische Haushaltshilfen gehören zum Alltag vieler Familien – zum Beispiel für Klara Kolodziej in Fronreute bei Ravensburg
FRONREUTE - Dass sie einmal verheiratet war, vergisst Klara Kolodziej immer wieder. Manchmal glaubt sie auch, wieder in Weingarten zu wohnen, wo sie aufgewachsen ist. Aber dafür weiß sie ganz genau, dass sie das Kaffeegeschirr vor vielen Jahrzehnten bei einer Lotterie gewonnen hat. Das erzählt sie an diesem Dienstagnachmittag einige Male, auch bei der zweiten Tasse Kaffee ist es wieder Thema. Der Kuchen schmeckt ihr. Jeden Nachmittag. Menschen mit Demenz brauchen eine Tagesstruktur. Klara Kolodziej nimmt einen Schluck Kaffee, fasst beherzt die Hände links und rechts von ihr. „Meine zwei Herzele“, sagt die 96-Jährige. Sie lächelt, freut sich und ist glücklich in diesem Moment.
Ihre zwei Herzele, das sind ihre Tochter Beatrix Schröder (60) und Minka Ivanova (49), die seit knapp einem Jahr zusammen mit ihr in ihrer Wohnung lebt. Minka Ivanova putzt, spült Geschirr, macht die Wäsche und kocht. „Spätzle und Würste mag Klara am liebsten“, weiß Minka. Alle im Haus nennen die 49-Jährige so. Schübling, Schnitzel, Hähnchen und Salat bereitet sie zu. Manchmal gibt’s aber auch Bulgarisches, auch das mag Klara Kolodziej hin und wieder.
Minka Ivanova kommt aus Bulgarien. Sie ist eine von etwa 300 000 osteuropäischen Haushaltshilfen, die in Deutschland in Familien leben. Im Landkreis Ravensburg sind es mindestens 289. Experten schätzen, dass diese Zahl deutlich höher ist. Die meisten Haushaltshilfen kommen aus den östlichen Ländern der Europäischen Union, weil es für EUBürger einfach ist, in einem anderen europäischen Land zu arbeiten. Die Frauen und Männer, die als Haushaltshilfen arbeiten, sind mittlerweile ein wichtiger Bestandteil im Puzzle der Betreuung älterer Menschen in Zeiten des Pflegenotstandes. Gäbe es sie nicht, müssten viele Menschen allein zu Hause leben – ohne Betreuung.
Pflegedienste bekommen kaum mehr Personal, die Heime sind voll, die Ausbildung zum Pfleger wollen nicht genügend Menschen machen. Die Verdienstperspektiven sind nicht so gut wie in anderen Berufen, und die Arbeit ist hart. Auf Stellenanzeigen gebe es keine Bewerbungen, berichtet etwa Roswitha Gesugrande, Chefin der Sozialstation St. Martin in Schlier, aus ihrer Erfahrung. Bis eine ausgefallene Fachkraft (zum Beispiel wegen Krankheit oder Schwangerschaft) wieder ersetzt werden kann, dauere es circa zehn Monate. Viele Pflegedienste nehmen keine neuen Patienten mehr auf, weil sie die Arbeit gar nicht mehr bewältigen können.
Und es wird nicht besser. Die Gesellschaft altert. In wenigen
Jahren gehen die sogenannten Babyboomer (Jahrgänge 1955 bis 1965) in Rente. Dann gibt es mehr Rentner als Erwerbstätige – und die Lebenserwartung steigt weiter. Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern 78,3 Jahre und bei Frauen 83,2. In Baden-Württemberg sind die Zahlen sogar um knapp ein Jahr höher. In einem Bericht des Landratsamtes Ravensburg heißt es, dass bis zum Jahr 2025 der Anteil der über 75-Jährigen um 3500 Menschen auf über zwölf Prozent der Kreisbevölkerung ansteigen wird. Außerdem stellt der Bericht ein „gravierendes Defizit“bei der Tagespflege fest. Gleichzeitig wollen viele Senioren so lange es geht zu Hause betreut werden.
Auch Beatrix Schröder möchte, dass ihre Mutter zu Hause leben kann, und übernahm deshalb selbst die Pflege. „Jahrelang habe ich davon profitiert, dass mein Mann und ich zusammen mit meiner Mutter im selben Haus gewohnt haben. Da wollte ich sie nicht einfach in ein Heim geben, das hätte sie wahrscheinlich auch überfordert. Ich will ihr etwas zurückgeben.“Doch sie kam schnell an ihre Grenzen. Klara Kolodziej konnte nach einem Sturz 2016, einem Oberschenkelbruch, dem Nachlassen der Sehkraft und dem Beginn der Demenz nicht mehr alleine wohnen. Also bemühte sich die Tochter um eine Betreuung. Eine selbstständige deutsche Pflegerin kümmerte sich um ihre Mutter. 4500 Euro kostete das im Monat, da waren die Rente und das Angesparte schnell aufgebraucht.
Erschwerend kam hinzu, dass die 60-Jährige kein eigenes Leben mehr hatte, wie sie heute sagt. Sie ging morgens zur Arbeit, kam abends zurück nach Hause, wo die Arbeit mit ihrer Mutter weiterging. Sie schlief in der Wohnung ihrer Mutter, wollte zur Stelle sein, falls sie in der Nacht
Beatrix Schröder über ihre Mutter Klara Kolodziej
Hilfe benötigt. „Das ist wie wenn man kleine Kinder hat, die nachts schreien. Man kann nicht mehr durchschlafen und muss am anderen Morgen wieder ins Geschäft“, erzählt Schröder. Auch das Wochenende gehörte ihrer Mutter. „Wenn man abends zum Essen gehen will und die Betreuung pro Stunde 18 Euro kostet, überlegt man sich das mit Weggehen am Wochenende“, erzählt sie.
Preiswerte Hilfe aus dem Osten
Im Verhältnis zu deutschen Pflegekräften sind die osteuropäischen Haushaltshilfen deutlich günstiger. Laut Expertenangaben liegen die Kosten im Durchschnitt bei monatlich 2500 Euro. Die meist weiblichen Hilfskräfte wohnen zusammen mit den Senioren in der Wohnung oder im Haus. Wer sich mit der Thematik beschäftigt, gerät schnell in einen Dschungel von Agenturen mit den verschiedensten Modellen. Nach Angaben des Landratsamtes Ravensburg gibt es deutschlandweit rund 400 Unternehmen, die solche Kräfte vermitteln. Doch die Agenturen, Dienste und Modelle sind alle nur schwer miteinander zu vergleichen. Bei einer Untersuchung der Stiftung Warentest (Ausgabe 05/2017), die 13 Agenturen unter die Lupe genommen hat, schnitten diese nur mäßig ab. Neun überzeugten in der Vermittlung, wiesen aber in anderen Punkten wie Kundeninformationen Mängel auf. Fast alle Agenturen hatten teilweise erhebliche Mängel in den Verträgen – zum Beispiel im Punkt Arbeitsrecht.
Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten: das Entsendemodell und das Arbeitgebermodell. Beim Entsendemodell werden die Senioren Kunden einer Agentur, bei der die Haushaltshilfen angestellt sind. Beim Arbeitgebermodell werden die Senioren zu Arbeitgebern, die selbst die Haushaltshilfe anstellen – unter Berücksichtigung aller gesetzlichen Vorschriften, versteht sich. Dabei können Vermittlungsagenturen aus Osteuropa, aus Deutschland oder auch die Agentur für Arbeit helfen. Beim Arbeitgebermodell muss man sich während des Urlaubs oder im Fall einer Erkrankung der Angestellten selbst um Vertretung kümmern, beim Entsendemodell macht es die Agentur. Je nach Agentur und Modell wechselt die Haushaltshilfe nach einer bestimmten Zeit. Beatrix Schröder hat sich für das Arbeitgebermodell entschieden. „Das ist für mich die rechtlich sauberste Variante, weil ich weiß, wie viel Geld sie wirklich bekommt und dass das Gesetz eingehalten wird“, sagt sie.
Wichtig ist, dass man nicht dem Irrglauben aufsitzt, es handele sich bei einer solchen Haushaltshilfe um eine 24-Stunden-Kraft. „Eine Rundum-die-Uhr-Betreuung verstößt gegen das Gesetz“, erklärt Christian Walz, der Leiter des Seniorenbüros Biberach, bei einer Informationsveranstaltung in Bodnegg. Denn auch für diese Kräfte gilt das Arbeitszeitgesetz – wie für jeden anderen Arbeitnehmer. Das heißt, die Haushaltshilfe hat eine Fünf- oder Sechstagewoche und Freizeit, in der sie beispielsweise Freunde treffen kann. Außerdem darf nicht von Pflege gesprochen werden – die darf in Deutschland nur ausgebildetes Pflegepersonal übernehmen.
Beidseitige Abhängigkeit
Das Beispiel von Beatrix Schröder zeigt aber, dass die alternde deutsche Gesellschaft auf Menschen wie Minka Ivanova angewiesen ist. Und auch die osteuropäischen Kräfte sind auf Deutschland angewiesen. „Zu Hause gibt es keine Jobs. Deswegen sind alle weg aus meiner Heimat. Alle arbeiten im Ausland. Das ist schlimm für Bulgarien, wenn alle jungen Leute fort sind“, erzählt sie. Nachdenklich blickt sie in den Garten. „Deutschland, England, Spanien, Dänemark“, zählt sie auf, wo ihre Freunde arbeiten. Auch ihre beiden 22- und 28-jährigen Söhne sind nach Großbritannien gegangen, wo sie Pakete austragen. Das Gehalt sei allemal höher als das, was man in Bulgarien verdiene. Ihr Mann arbeitet in Bulgarien als Polizist. „Das Heimat“, sagt sie und hält ihr Tablet in die Höhe, mit dem sie über das Internet Kontakt zu ihrer Familie halten kann.
Nach dem Mittagskaffee spült Minka ab. Klara erzählt, dass sie das Kaffeegeschirr einmal bei einer Lotterie gewonnen hat. „Mir gibt es ein beruhigendes Gefühl, wenn jemand mit meiner Mutter in der Wohnung ist“, sagt Beatrix Schröder. Minka ist beiden ans Herz gewachsen. Man habe Glück gehabt, dass es mit ihr so gut passe. Manchmal stimmt die Chemie nicht und es kommt zu Problemen. Aber Minka Ivanova ist längst ein Familienmitglied geworden. Manchmal machen sie gemeinsam Ausflüge. „Wir gehen auch mal an den Bodensee und fahren mit dem Schiff. Das ist Lebensqualität für meine Mutter. Das ist mir wichtig, auch wenn sie am anderen Tag vielleicht gar nicht mehr weiß, dass sie auf dem Bodensee war.“
Wichtig ist, dass Klara Kolodziej morgen wieder am Tisch sitzen, Kaffee trinken und Kuchen essen wird. Und dass sie Minka wieder erzählen kann, dass sie ihr Kaffeegeschirr bei einer Lotterie gewonnen hat. Minka wird sich nichts anmerken lassen.
„Ich wollte sie nicht einfach in ein Heim geben. Ich will ihr etwas zurückgeben.“
„Zu Hause gibt es keine Jobs. Deswegen sind alle weg aus meiner Heimat.“ Haushaltshilfe Minka Ivanova über die Situation in Bulgarien