Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Plötzlich zieht er ein Messer aus einer Plastiktüte“
Einer der drei Verletzten schildert, wie er den Angriff auf dem Ravensburger Marienplatz am Freitagnachnittag erlebt hat
RAVENSBURG - Als am Freitag vergangener Woche auf dem Marienplatz ein junger Mann mit einem Messer Passanten attackierte, war Bian (Name von der Redaktion geändert) mittendrin. Er war eines von drei Opfern an jenem Nachmittag. Schwer verletzt kam er in die Klinik. Nun, nachdem die Ärzte seine Wunden versorgt haben und die Polizei ihn vernommen hat, erzählt er, wie er den Messerangriff erlebt hat.
Es ist kurz nach 16 Uhr, Bian sitzt mit seinen Freunden auf den Holzbänken an der Bushaltestelle Marienplatz. Sie treffen sich regelmäßig auf dem Marienplatz. Sitzen, quatschen. Er ist ihr zweites Wohnzimmer. Heute reden sie über die Schule, Bian muss noch einen Praktikumsbericht fertigstellen. Der schmale, zurückhaltende Mann besucht die Edith-Stein-Schule in Ravensburg, Industriemechatroniker will er werden. Er ist nach eigenen Angaben 21 Jahre alt, die Polizei gibt sein Alter mit 20 Jahren an. Geboren wurde Bian als der ältere von zwei Brüdern im nordsyrischen Al Hassaka. In Syrien habe er „viel gesehen“und selbst Gewalt erlebt. Wenn er davon erzählt, schweift sein Blick ab. Seit drei Jahren lebt er nun gemeinsam mit seiner Familie in einer Gemeinde im Landkreis. Sein Deutsch ist erstaunlich gut, obwohl er praktisch gar keine deutschen Freunde habe.
An der Bushaltestelle fällt Bian plötzlich der afghanische Klassenkamerad seines Cousins auf, der über die Straße auf die Bushaltestelle zukommt. Er kennt ihn flüchtig, nicht mal gut genug, um seinen Namen zu kennen. „Plötzlich zieht er ein Messer aus einer Plastiktüte.“Am Handgelenk trägt der Mann ein schmales Band, sagt Bian, es sieht aus wie die afghanische Flagge. Er klopft auf das Armband, sagt: „Ich bin Afghane!“Dann geht alles blitzschnell. Bevor Bian reagieren kann, steht der junge Mann vor ihm, will mit dem Messer auf ihn einstechen, wie Bian ahnt. Instinktiv hebt er den linken Arm. Dann fährt das Messer in sein Fleisch.
Bereits am Vormittag hatte er den jungen Afghanen in der Stadt getroffen. Der sprach ihn an. „Hey Bruder, heut’ schlag ich jemanden, ich bring den um“– so was in der Art, erinnert sich Bian. Der Afghane sprach Deutsch mit ihm. „Mach keine Scheiße, geh nach Hause“, antwortete Bian. Er nahm die Aussagen des jungen Afghanen nicht ernst. Bian wendete sich ab und vergaß den Vorfall.
Bis er auf der Bank in der Bushaltestelle den ersten Stich abbekommt. Er sieht, dass er blutet. Sieht den Afghanen wieder ausholen. Ein zweiter Stich trifft seinen linken Oberschenkel. „Ich war wie im Traum“, sagt Bian. „Warum tut der das?“Das Bushaltestellenhäuschen ist plötzlich leer, nur eine junge Frau steht noch halb hinter ihm. Seine Freunde sind weggerannt. In alle Richtungen. Hätte er geahnt, dass der Afghane ihn angreifen will, hätte er noch seinen Schlüssel aus der Hosentasche gezogen, an dem ein kleines Taschenmesser hängt, sagt er. Es ist aber nur so groß wie ein kleiner Finger.
Noch ein dritter Stich
Die Frau, die hinter ihm steht, fleht: „Es reicht, bitte, es reicht.“Bian fürchtet, dass der Afghane jetzt die Frau im Visier hat. „Da habe ich ihn mit dem Fuß heftig nach hinten geschoben“, flüstert Bian. „Das war wie ein Reflex.“Daraufhin sticht der Angreifer ihm auch noch in den rechten Oberschenkel. Dann verschwimmt Bians Erinnerung. Einer seiner arabischen Freunde schreit wohl aus der Deckung heraus, beschimpft den Angreifer. Der jedenfalls wendet sich ab. Bian ist schockiert und fassungslos: Warum hat er auf mich eingestochen?
Plötzlich sind wieder Menschen um Bian. Zwei Bekannte basteln auf die Schnelle aus einem T-Shirt und einer Flasche einen Druckverband. Ein Arzt und ein Krankenpfleger sind schnell bei ihm, wie er sich erinnert. Und die Frau ist auch noch da, eine Türkin, vermutet Bian. Ein Passant film ihn, wie er verletzt daliegt. Das Video, das sich binnen Minuten durch die sozialen Netzwerke verbreitet, bekommen seine Eltern sofort von einem Bekannten zugespielt. Sie erfahren von dem Verbrechen über das Handy.
Was Bian umtreibt, eine Woche nach der Attacke: Dass der Daumen seiner linken Hand nach wie vor taub ist. Drei Nervenbahnen im Arm sind wohl durchtrennt worden. Er hofft, dass das Gefühl zurückkehrt. Dass er arbeiten kann. Und er wünscht sich, dass er sich bei der Frau bedanken kann, die sich um ihn gekümmert hat. Sie sei bei ihm geblieben, habe ihn gestützt, körperlich wie auch mental, sei dann aber verschwunden.
Ob er jemals wieder angstfrei auf dem Marienplatz sitzen kann? „Das weiß ich nicht“, sagt Bian. „Aber vielleicht sollte ich gehen. Zeigen: Ich bin wieder da, hab keine Angst.“