Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Ein Alltagskrimi, wie ihn das Leben schreibt
Autorin Anja Jonuleit liest im Gessler 1862 aus ihrem neuen Roman „Das Nachtfräuleinspiel“
FRIEDRICHSHAFEN - Ein Roman, der sich wie ein Krimi liest – das ist das Fazit der gut 40 Zuhörer im Gessler 1862, als Anja Jonuleit aus „Das Nachtfräuleinspiel“gelesen hat. Nach ihren Erfolgen mit „Das Wasser so kalt“, „Herbstvergessene“und „Rabenfrauen“hat sich die Eriskircher Schriftstellerin wieder eines Themas mit einem realen Unterbau angenommen. In diesem Fall gab Anna Wahlgren, Mutter von neun Kindern und Verfasserin von Erziehungsratgebern, den Ausschlag. Nach außen ist sie eine perfekte Mutter mit Ratschlägen in allen Lebenslagen, doch nach Jahren rechnete eine ihrer Töchter öffentlich mit ihrer „Kindheitshölle“ab.
„Das Nachtfräuleinspiel“handelt vom Schein und Sein des Lebens. Was sich banal anhören würde, doch Anja Jonuleit versteht es, nuancierte Bilder von ihren Protagonisten zu zeichnen, sie mit Leben zu füllen und baut gleichzeitig eine Spannungsbogen auf, der neugierig macht. In ihrem Fall ist Liane die perfekte (Über)- Mutter und Ratgeberin im Fernsehformat „Familienretterin“. Ihr Engagement reicht von Backtipps für die Weihnachtsfeier der Schule bis hin zu therapeutischen Ratschlägen für Kinder aus schwierigen Verhältnissen. „In diesem Fall ist Liane eine Verfechterin der Festhaltetherapie, bei denen Kinder – auch gegen ihren Willen - unter Umständen stundenlang von einer vertrauten Person eng umschlungen festgehalten werden, bis die Liebe wieder fließt“, erklärt Jonuleit. Dass die Autorin diese Methoden für verwerflich hält, macht sie deutlich. Nach außen verkauft Liane das Bild der glücklichen Familie, deren Fassade sie mit ihrem ganzen Engagement aufrechterhält. Doch ein Blick hinter den Kulissen offenbart auf dramatische Weise, wie es um die perfekte Familie bestellt ist. Anna-Maria hat es gesehen und erlebt. Sie ist im Roman die Gegenspielerin der Übermutter. Dabei hatte das Mädchen aus schwierigen Verhältnissen zunächst große Hoffnungen in das Leben dieser Familie gesetzt. Nach dem frühen Tod ihrer leiblichen Eltern und ihrer Gewalterfahrungen war sie endlich in einer harmonischen Familie angelangt. Doch so nach und nach werden Lianes Geheimnisse offenbart und aus der Dunkelkammer ihres Lebens ans Licht gebracht.
Kinder, Kochen und Karriere
In Jonuleits Roman gibt es verschiedene Erzählebenen, deren Fäden sich im Laufe der Geschichte zusammenspinnen. Sie behandelt die drei großen „K“im Leben einer Frau: Kinder, Kochen und Karriere und was es bedeuten kann, wenn es in große „E“ausartet: Extremismus in Ernährungs- und Erziehungsfragen. Sie bilden das Gerippe für eine spannungsgeladenen Geschichte, die sie im Laufe von zwei Jahren nach und nach vervollständigte. Diese Zeit dauere es von der Idee bis zur Druckfahne, erklärt sie auf Nachfrage und gibt lachend zu: „Das Schreiben der bösen Figur hat mir richtig Spaß gemacht.“Sie habe sich viel mit Extremismus beschäftigt, den man nicht auf Drogenkonsum reduzieren, sondern sich bei manchen Menschen auch im Alltäglichen wie beispielsweise einer bestimmten Ernährungsweise finden könne. Einerseits birgt die Geschichte dramatische Momente, andererseits humorvolle Augenblicke, wie sie Familien mit Kleinkindern bestens kennen. Da artet eine weihnachtlich Backsession schon mal in ein ultimatives Küchen-Chaos aus. Ein Werk, das Spannung, Dramatik und auch Humor miteinander verknüpft. Eben ein „Alltagskrimi“, wie das Leben ihn manchmal schreibt.