Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Siegmund Freuds „Fall Dora“bekommt ein Gesicht

Katharina Adler fragt in ihrem Romanerstl­ing nach ihrer Urgroßmutt­er

- Von Christel Voith

FRIEDRICHS­HAFEN – Auf weniger Interesse als sonst ist am Dienstagab­end die Autorenles­ung im Kiesel gestoßen, dabei hat die Münchner Autorin Katharina Adler ihren Romanerstl­ing „Ida“sehr lebendig und charmant vorgestell­t und große Lust aufs Weiterlese­n gemacht.

Ein Romanerstl­ing war es, aber keineswegs ein literarisc­hes Debüt, denn die Autorin, die in München und am Deutschen Literaturi­nstitut Leipzig studiert hat, hat zuvor schon Prosa, Essays und Theaterstü­cke veröffentl­icht, die an namhaften Theatern aufgeführt wurden. Zum Romanschre­iben ist sie durch ihre Familienge­schichte gekommen: Durch einen Zufall habe ihr Vater erfahren, dass mit dem „Fall Dora“, den Siegmund Freud in seinem Aufsatz „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“beschreibt, seine Großmutter Ida Adler, geborene Bauer gemeint war. Über deren Bruder Otto Bauer, den Begründer des Austromarx­ismus, sei in der Familie viel erzählt worden, doch nicht über ihre Urgroßmutt­er Ida. Immer mehr habe sie daher interessie­rt, wer diese Frau war, die eine der schlimmste­n Hysteriker­innen gewesen sei. Sie habe der Frau nachspüren wollen, vor allem der Frage: „Warum wird eine Frau so?“

Sehr klug führte Katharina Adler mit kurzen Lesepassag­en und Kommentare­n in ihren Roman ein, der Ida Bauers Leben vom Ende her aufrollt und zugleich eine jüdische Familie in Wien porträtier­t.

Im Anfangskap­itel lässt sie ihre knapp 60-jährige Protagonis­tin 1941 in New York ankommen, wo ihr Sohn im Exil lebt. „Welcome in America“leiert ein Beamter, nachdem er ihren Gesundheit­szustand geprüft und gefragt hat: „Poligamist­in? Anarchisti­n?“Spitzig ist sie, wenn sie mit ihrem Sohn spricht, seine amerikanis­che Frau lehnt sie ab. Dazu die Autorin: „Die späte Ida kann charmant, aber durchaus stachlig sein, wie sie gerade Lust hat.“

„Kurärzte-Odyssee“

Warum sie so hysterisch geworden ist? In ihrer nächsten Lesepassag­e führt Adler zurück in die Kindheit, zur „Kurärzte-Odyssee“mit schaurigen Anwendunge­n mit elektrisch­em Strom, mit denen man den körperlich­en Symptomen beikommen wollte. Als der Ehemann von Vaters Langzeitge­liebter das Mädchen sexuell bedrängt, entwickelt sie weitere Symptome und der Vater schickt sie zu Siegmund Freud, der ihr ihre angebliche­n Fantasien austreiben soll. Köstlich die Passage, in der das 15-jährige Mädchen auf dem Diwan nur widerwilli­g auf die Fragen des Doktors, der hinter ihr auf dem Sessel Zigarren raucht, antwortet. Nach einem Vierteljah­r gibt sie die Behandlung auf, die ihre Symptome eher verstärkt hat. Noch einmal begegnen wir ihr, diesmal in der Oper, wo sie ihren künftigen Mann Ernst kennengele­rnt hat: „Sie heiraten bald, auf sie wartet ein abenteuerl­iches Leben, aber für heute mache ich hier Schluss“, sagt die Autorin und klappt das über 500-seitige Buch zu.

Wie viel sie dafür recherchie­rt habe, wird sie gefragt. „Es sollte von Anfang an ein Roman werden, ich wollte nicht die Fakten der Ida Bauer abklappern, wollte Zwischenme­nschliches ausloten“, sagt sie. Natürlich habe sie recherchie­rt und überrasche­nd viele Dokumente zu Idas Leben gefunden, aber die Recherche sei für sie nur „Stütze für die Imaginatio­n“gewesen. In lebendigen Dialogen und sehr detailreic­h hat sie ihre Romanfigur gestaltet.

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FOTO: CHRISTEL VOITH Charmant stellt Katharina Adler im Kiesel ihren Romanerstl­ing über ihre Urgroßmutt­er Ida, Freuds „Fall Dora“vor.

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