Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Der mit dem Frosch tanzt
Wäre Wetter eine Religion, ihr Hohepriester hieße Roland Roth – Hausbesuch zur 50-Jahr-Feier der Wetterwarte Süd
BAD SCHUSSENRIED - Die Wolken ballen sich dunkel, ja fast schwarz zusammen. Das Atmen fällt in der Schwüle dieses aufgeladenen Moments schwer, da ein fiebriges Sommergewitter aufgezogen ist und also kurz bevorsteht. Die meisten Menschen ziehen jetzt die Köpfe ein, suchen sich ein schützendes Dach, bevor es losgeht. Nur der kleine Roland hüpft im elterlichen Garten in Bad Schussenried auf und ab, um dieses Naturspektakel nur ja nicht zu verpassen. Keinen Regentropfen, keinen Blitz, keinen Donner. Die Rufe seiner besorgten Mutter, die den Fünfjährigen dazu mahnen, doch endlich reinzukommen, hört der Knirps gar nicht, während er in die bedrohliche Himmelsmasse starrt, bevor alle Wolkendämme brechen. „Damals hat es bei mir eingeschlagen“, sagt Roland Roth knapp 60 Jahre später, gemütlich im Garten der Wetterwarte Süd in Bad Schussenried sitzend. In kurzen Hosen, die Lippen an einer Tasse Kaffee. Das mit dem Einschlagen ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn das Wetter ist noch heute das Erste, woran er denkt, wenn er die Augen morgens aufmacht. Und das Letzte, bevor er sie nachts wieder schließt. Über seinem Bett sind in Sichtweite Temperaturund Feuchtigkeitsmesser angebracht.
Der Name Roth ist im Südwesten so untrennbar mit dem Wetter verbunden wie der Begriff Tempo mit Papiertaschentüchern. Es soll Leute geben, die der Meinung sind, ohne Roland Roth finde überhaupt kein Wetter statt. Da muss der leidenschaftliche Meteorologe, der auch täglich den Wetterbericht für die „Schwäbische Zeitung“liefert, grinsen: „Das ist mir schon klar, dass es auch ohne mich ein Wetter gibt.“Aber wahrscheinlich kein so unterhaltsames. Denn wenn Roth von Hochs, Tiefs, Hagel, Regen, Luftdruck, Schnee und anderen Phänomenen spricht, wirkt es so, als stehe der mittelgroße Mann von kerniger Statur unter Strom.
Die dazugehörige Spannung hat seit den ersten Gewittererfahrungen im Kindesalter nicht mehr nachgelassen. Und sie ist ansteckend, denn: „Inzwischen gehören zur Wetterwarte Süd ungefähr 250 Menschen.“Viele davon Leute, die unmittelbar von Roth infiziert wurden. Die Ausdehnung des Beobachtungsgebiets reicht von den Toren Stuttgarts bis knapp zu den Schweizer Alpen. Vom Schwarzwald bis kurz vor München. 72 digitale Wetterstationen und 130 Niederschlagsmessanlagen registrieren jeden Windhauch, jeden Tropfen, der vom Himmel fällt.
Angefangen mit der Wetterwarte Süd hat alles am Dreikönigstag 1968. Da ist Roland Roth 14 Jahre alt, als er im Garten der Eltern seine erste Wetterstation einrichtet und mit der Akribie eines Besessenen Daten sammelt – damals natürlich noch handschriftlich auf Papierbögen. Doch selbst in diesem jungen Alter hat der mitunter vorlaute Bursche fast zehn Jahre Wetterverrücktheit, wie er es selbst nennt, hinter sich. „Als ich in die Schule gekommen bin, habe ich die Lehrerin sofort mit Fragen zum Wetter bombardiert.“Die aber habe vom Wetter überhaupt keine Ahnung gehabt und also nur unzureichend auf die bohrenden Fragen geantwortet. Und sich schließlich dazu hinreißen lassen, den kleinen Roland barsch zurechtzuweisen. „Da wusste ich: Ich muss schnell lesen lernen, um mir die Wetterfragen aus Büchern selbst zu beantworten.“Das macht Roland dann auch – es vergeht nicht viel
Zeit, bis der JungWetterfrosch eineinhalb Laufmeter Fachliteratur durchgelesen hat.
Doch es bleibt nicht dabei, sich ganz allein um das Wetter in der Warte Süd zu kümmern. Roth spannt die Familie ein – später wird er anhand der Bögen verwundert feststellen, dass allein seine Mutter über die Jahre hinweg rund eine Million Daten aufgezeichnet hat. Das Netz an Helfern wird größer. Roth steckt eigenes und gesammeltes Geld kontinuierlich in neue Technik, bis zur Jahrtausendwende in der Wetterwarte Süd das Computerzeitalter anbricht. Endlich ist es möglich, die Daten elektronisch zu erfassen und am Rechner zu verarbeiten, dass das Wetter seine Geheimnisse noch besser preisgibt und Roths Vorhersagen, die auf Modellrechnungen und seiner langen Erfahrung beruhen, immer genauer werden. Roth blüht auf.
„Es gibt Leute, die glauben, ich lebe vom Wetter“, sagt Roth unter der Kunststoffpergola im Garten. Doch das stimmt nicht. Alles, was der 64Jährige aufgebaut hat, steht auf ehrenamtlichen Füßen. Und dass der Mann sein Leben tatsächlich nach dem Wetter ausgerichtet hat, dokumentiert auch sein beruflicher Werdegang. Denn immer, wenn er aus seiner geliebten Wetterzentrale aus Schussenried wegmuss, verspürt er regelrechte Entzugserscheinungen. Er beginnt Anglistik, Geografie, Theologie und Philosophie zu studieren – entscheidet sich dann für das Lehramt, weil er dabei zeitlich so flexibel ist, um das Wetter nicht aus den Augen zu verlieren. Als Roland Roth eine Schulstelle bekommt, ist diese zunächst fern der Heimat. Doch der damalige CDULandrat Wilfried Steuer – politisch mit dem aufmüpfigen SPDler Roth eigentlich auf Kriegsfuß – will die Wetterstation in Bad Schussenried unbedingt erhalten. Und so setzt sich der dunkelschwarze Politiker für den roten Roth ein, damit er alsbald in seinem Heimatort eine Stelle als Hauptschullehrer antreten kann.
Doch sein Lebensinhalt ist und bleibt das Wetter – es ist ein kleines Wunder, dass der umtriebige Roth, der ganz nebenbei auch noch die schwäbische Musikszene unterstützt und schließlich im Jahr 2007 ein legendäres Schwabenrock-Festival mitorganisiert, auch noch eine eigene Familie mit drei Kindern gründet. Nicht zu vergessen, dass Roth damals wie heute jeden aufziehenden Gewitter in die Arme laufen muss. „Zwanghaft“, wie er zugibt.
Wo er die Zeit hernimmt? Roland Roth führt darüber nicht Buch. Er führt es aber darauf zurück, dass er dem Fernsehen – außer er flimmert wieder einmal selbst über den Bildschirm – keine Aufmerksamkeit schenkt. Lieber macht, als guckt. In der Wetterwarte zeigt er nun im Arbeitszimmer das Allerheiligste: Bildschirme, geflutet mit Wetterdaten. Die Wände sind komplett mit Büchern überladen. Überall zeigt sich die Vereinsfahne des Fußballclubs Eintracht Frankfurt, für den er schwärmt, seit ihn sein Opa zu einem Spiel gegen den VfB Stuttgart mitgenommen hat. Natürlich hat der Großvater erwartet, damit einen glühenden VfB-Fan aus seinem Enkel zu machen. Doch der hatte seinen eigenen Kopf. Auch heute noch.
Natürlich gab und gibt es Menschen, denen Roland Roth mit seiner Wetterfaszination gehörig auf die Nerven geht. Hinter der Ablehnung bestimmter Leute vermutet er Neid. Aber das stört Roth nicht besonders. Was ihn allerdings schon stört, ist die Esoterik, die manche Menschen mit dem Wetter und dann auch mit seiner Person verbinden. Es gibt drei obskure Bewunderinnen, die Roth nur mühsam abschütteln konnte. Von denen auch welche unangemeldet vor seiner Tür auftauchten. Und auf seinen Vorträgen, von denen er jetzt, da er in Pension ist, rund 30 im Jahr hält. Wie die nähere Zukunft aussieht, weiß Roland Roth schon: „Wenn es die Gesundheit zulässt, bleibe ich auf dem Posten.“Trotzdem mache er sich natürlich Gedanken über eine Nachfolge, ohne dabei Hektik aufkommen zu lassen.
Gewitter-Entzugserscheinungen
Der vergangene Sommer war übrigens eine Qual für Roland Roth. „Es gibt nichts Langweiligeres als ständig Hochdruck.“Da passiere ja nichts Aufregendes. Generell bringe der Klimawandel aber messbar mehr Wetterextreme, die er als Experte natürlich hochspannend finde – wenn auch teilweise erschreckend. „Niederschlagsrekorde, die früher lange hielten, sind heute schnell pulverisiert.“Ob wir denn einen kalten Winter bekommen? Auf so eine Frage lässt sich der 64-Jährige gar nicht erst ein. „Kaffeesatzleserei“, sagt Roth bloß dazu und ist froh, wenn er einen Wochenzeitraum verlässlich vorhersagen kann. Hauptsache, es gibt überhaupt morgen wieder ein Wetter. Und vielleicht sogar ein kleines Gewitter zur Feier des Geburtstags der Wetterwarte Süd, wie es der Chef so sehr liebt, seit es bei ihm eingeschlagen hat. Weil Roland Roth eigentlich heute noch der kleine Knirps von damals ist, der da mitten im Wetterdrama steht und wie gebannt in den Himmel starrt.