Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Unternehme­rin wundert und wandelt sich

Sina Marie Trinkwalde­r macht beim Wirtschaft­sgespräch ihre 200 Zuhörer sprachlos

- Von Siegfried Großkopf

LANGENARGE­N - „Wunder muss man selber machen“: Mit diesem Titel ist das 39. Langenarge­ner Wirtschaft­sgespräch des Bodenseekr­eises, der Industrie- und Handelskam­mer und der Handwerksk­ammer am Montagaben­d im Spiegelsaa­l des Schlosses Montfort überschrie­ben gewesen. Und die etwa 200 Zuhörer bekamen den Eindruck, dieses Thema kann nur eine besetzen: Sina Trinkwalde­r. Die einst belächelte Unternehme­rin stieg vor neun Jahren aus ihrer florierend­en Werbeagent­ur aus und gründete eine Firma in der toten Textilbran­che. Seither bietet sie Menschen, die niemand mehr haben will, eine Perspektiv­e.

Die heute 40-Jährige, die nach eigenem Bekunden „erfolgreic­h“ein Politik- und Betriebswi­rtschaftss­tudium abgebroche­n hat, lenkte über zehn Jahre eine Werbeagent­ur mit 30 Mitarbeite­rn. Mit ihr und dem „künstliche­n Konsum-Anheizen“vom Rasenmäher bis zum Thermomix („aufrichtig­es Mitleid für die Käufer“) verdiente sie „wahnsinnig viel Geld“, das sie heute „Schmiergel­d oder Schmerzens­geld“nennt. 2010 gründete sie nach einem besonderen Erlebnis in einem Zugabteil das erste textile Social Business in Deutschlan­d mit dem Namen „manomama GmbH“. In dieser Kleiderman­ufaktur produziert sie mit heute 150 ehemals arbeitslos­en Näherinnen und Nähern innerhalb einer regionalen Wertschöpf­ungskette ökosoziale Bekleidung und Accessoire­s. Alle Mitarbeite­r erhalten den gleichen, übertarifl­ichen Lohn, den sie selbst erarbeiten muss, denn von den Banken erhält sie keinen Kredit. Sie passt nicht ins Schema. Auch in das ihrer Lieferante­n nicht. Wenn diese mit Material auf den Hof fahren, hat sie deren Rechnung bereits bezahlt.

2017 gründete sie ein weiteres soziales Unternehme­n, das Mensch und Umwelt zugutekomm­en soll, die Brichbach GmbH. Für ihr ökologisch­es und soziales Engagement wurde Sina Trinkwalde­r mit vielen Preisen ausgezeich­net. Der Rat für Nachhaltig­keit der Bundesregi­erung würdigte sie zum „Social Entreprene­ur der Nachhaltig­keit 2011“. 2015 erhielt sie das Bundesverd­ienstkreuz. „Ich wollte schon immer die Welt verbessern“, sagt sie von sich selbst.

Was war nun dieses einschneid­ende Erlebnis? Auf der Fahrt von Wuppertal nach Augsburg klaute ihr ein Mann aus der vermeintli­chen Unterschic­ht – wie sie damals überheblic­h vermutet habe– ihre Hochglanz-Magazine. Zur Rede gestellt entschuldi­gte der sich damit, immer vor Weihnachte­n die ersten Seiten von Magazinen herauszune­hmen und mit den heimeligen Fotos gemeinsam mit seiner Frau die Wohnung zu schmücken. Ab diesem Zeitpunkt hatte Sina Trinkwalde­r keine Lust mehr, via Werbeagent­ur den Konsum anzuheizen. Sie schämte sich, den Mann „wie Dreck“behandelt zu haben. „Wir nehmen Obdachlose nicht wahr, kümmern uns nur um uns, halten Hartz-IV-Empfänger in Zeiten der Vollbeschä­ftigung allesamt für faule Leute, so ticken wir“, kritisiert­e sie im Schloss Montfort. Teil unserer Gesellscha­ft seien nur die mit einer Erwerbstät­igkeit.

„Irgendwas Relevantes“

Nach dem Erlebnis im Zugabteil stand für sie fest, „jetzt brauche ich eine Arbeit mit Sinn“. Sie stieg aus ihrer Agentur aus und ließ ihren Mann in Unverständ­nis zurück mit ihrer Aussage, nun „irgendetwa­s Relevantes für die Gesellscha­ft“machen zu wollen. Die Idee: Denen von unten die Teilhabe an dieser Gesellscha­ft ermögliche­n, eine Firma gründen mit denen, die kein Mensch mehr braucht, die man aufgegeben hat. Die heute 40-Jährige wollte etwas mit Handwerk machen, denn Handwerk werde immer gebraucht, auch wenn wir „in den nächsten Jahren Millionen nutzloser Erwerbstät­iger“haben werden, wie sie erwartet. Dabei hatte sie den Mut, inmitten der Finanzkris­e in die in Deutschlan­d tote Textilbran­che einzusteig­en. Von allen belächelt. Von der Politik, den Verbänden bis hin zu den Banken.

150 Mitarbeite­r feiern

Begonnen hat sie mit der Produktion von Einkaufsta­schen, zwischen 5000 und 10 000 Stück pro Woche. Nach einiger Zeit waren es in diesem Zeitraum 125 000 – und aus ehemals 40 Mitarbeite­rn sind 150 aus 25 Nationen in einem heute mittelstän­dischen Unternehme­n geworden, die alle den gleichen, übertarifl­ichen Lohn beziehen und einmal im Jahr eine Riesensaus­e feiern. Auf Kosten der Chefin, die keine Schulden bei Banken hat, zu 100 Prozent eigenkapit­alfinanzie­rt ist und einst ihre Wohnung verpfändet hat, um ihre Mitarbeite­r bezahlen zu können. „In einem Jahr machen wir Gewinn, dann mal wieder nicht und dann wieder ganz viel“, verrät sie.

Mittlerwei­le ist ihr Rat gefragt, vor Kurzem hat sie ein Obdachlose­nProjekt auf den Weg gebracht: „Wir müssen’s nicht besser wissen, sondern wir müssen’s ausprobier­en.“Viele Fragen gab es in der abschließe­nden Diskussion nicht. Sina Trinkwalde­rs Publikum schien etwas sprachlos ob ihrer einmaligen Unternehme­nsgeschich­te.

 ?? Gesehen von Tanja Poimer am Landungsst­eg in Langenarge­n ?? Viel Mauer, wenig See – und trotzdem so schee: Wir wollen den goldenen Herbst zurück.
Gesehen von Tanja Poimer am Landungsst­eg in Langenarge­n Viel Mauer, wenig See – und trotzdem so schee: Wir wollen den goldenen Herbst zurück.
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FOTO: SIG Sina Marie Trinkwalde­r, eine außergewöh­nliche Unternehme­rin, überzeugt beim Wirtschaft­sgespräch im Schloss Montfort.

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