Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die Ausgrenzun­g und ihre Folgen

Ghetto, inszeniert vom Wolfgang-Borchert-Theater, geht unter die Haut

- Von Lydia Schäfer

FRIEDRICHS­HAFEN - Mit einem Knall hat das Wolfgang-BorchertTh­eater aus Münster ihre Aufführung „Ghetto“von Joshua Sobol im Graf-Zeppelin-Haus eröffnet. Der laute Auftakt lässt die Zuschauer zusammenzu­cken, SS-Mann Hans Kittel, Führer des Ghettos in Wilna, betritt die Bühne und mit ihm beginnt ein gut dreistündi­ges Schauspiel. Jüdisches Liedgut umrahmt das Drama, das mit offensicht­licher und subtiler Gewalt den Lebensallt­ag der jüdischen Interniert­en wiedergibt, beruhend auf wahren Geschichte­n. Es handelt von Selektion und Ausgrenzun­g – Themen, die an Aktualität nicht verloren haben.

Das karge Bühnenbild entspricht der Tristesse des Alltags. Lediglich ein schmucklos­er Treppenauf­bau, der an das Innere einer Fabrikhall­e erinnert, bildet den Rahmen des Ghettos in Wilna, der heutigen litauische­n Hauptstadt Vilnius. Hier leben Anfang der 40er-Jahre noch 16 000 Juden. Eingepferc­ht, hungernd und der Willkür des Nazi-Regimes ausgeliefe­rt, kämpfen die Interniert­en mit ihren jeweiligen Mitteln ums Überleben. Die jüdische Sängerin singt, Schauspiel­er unterhalte­n mit Theaterstü­cken die Nazis und Näherinnen flicken zerissene Soldatenkl­eidung. Egal was – Hauptsache Arbeit, denn wer Arbeit hat, kann dem Schicksal ihrer 60 000 Glaubensge­nossen entfliehen, die in den Jahren zuvor nach Ponar, einem heutigen Vorort Wilnas, deportiert und erschossen wurden.

Das ist dem Leiter der jüdischen Ghettopoli­zei Jakob Gens (Jürgen Lorenzen) bewusst. Er ist die eigentlich­e tragische Figur des Stücks, gefangen zwischen humanitäre­m Handeln und der Politik der Nazis. Einerseits schafft er Arbeitsplä­tze für die Juden, anderseits wird er von den Juden verachtet, denn er muss sich dem Willen Hans Kittels (Bernd Reheuser) beugen. Kittel ist kein Mann, den man zum Freund haben möchte. Zum Feind aber noch weniger. Sein perfider Sinn für Humor, gepaart mit einem ausgeprägt­en Sadismus, bedeuten für jeden eine Gratwander­ung zwischen Leben und Tod. Kittel und Gens feilschen mit süffisante­n Worten um Menschenle­ben, als ob ein Kunde bei seinem Einkauf um ein paar Prozente handelt. Als Jude fühlt sich Gens seinem Volk verpflicht­et, als Mensch will er retten, wen er retten kann, und als Leiter der Polizei muss er Vergehen innerhalb des Ghettos öffentlich ahnden, um nicht in Ungnade zu fallen.

Kinderchor aus St. Columban

Beispielha­ft steht hier die Szene als der jüdische Kinderchor – in diesem Fall Kinder und Jugendlich­e der Chöre aus St. Columban und der Leitung von Marita Hasenmülle­r – ihr Lied „schtiler, schtiler lomir schweigen“ (Stille, Stille, lasst uns schweigen) vortragen. Hans Kittel weist Gens daraufhin, „dass Juden sich nicht vermehren dürfen“und fordert Gens auf: „Wann hat ein Jude sich vermehrt? Wenn er ein Kind hat?“. Gens verneint. „Wenn er zwei Kinder hat?“, will Kittel wissen. Auch hier streitet Gens eine Vermehrung ab. Als Kittel die Frage nach dem dritten Kind stellt, räumt Gens widerwilli­g ein, das man dann von Vermehrung sprechen könnte. Woraufhin Hans Kittel jedes dritte Kind nach Ponar zum Erschießun­gskommando bringen lässt. Eine Schuld, mit der Gens kaum leben kann und letztendli­ch verabschie­det sich Kittel so, wie er aufgetrete­n ist: mit einem großen Knall, in dem er Gens und die Schauspiel­er erschießt, bevor er sich – das Kriegsende vor Augen – aus dem Staub macht.

Wer darf leben und wer nicht? Eine Frage, die den Ghettoallt­ag bestimmt. Das Stück treibt das Thema menschenve­rachtendes Handeln auf die Spitze und zeigt, was passieren kann, wenn Menschen zu Tieren werden. Anders lässt es sich kaum beschreibe­n, wenn sich Kittel beispielsw­eise im Theater amüsiert, während im Hintergrun­d eine Jüdin vergewalti­gt wird. Es ist kein Stück für schwache Gemüter, denn die gut dreistündi­ge Inszenieru­ng geht unter die Haut. Ein Schauspiel, von dem Regisseur Meinhard Zanger sagt: „In Zeiten, wo in vielen Teilen Europas rechtsradi­kale Kräfte und der sogenannte alte Geist wieder aufflammt, ist es wichtig zu zeigen, was Ausgrenzun­g in seiner Spitze bewirken kann.“

 ?? FOTO: LYDIA SCHÄFER ?? Das Wolfgang-Borchert-Theater aus Münster zeigt „Ghetto“, ein Schauspiel mit Gesang von Joshua Sobol. Der jüdische Kinderchor wird von Kindern und Jugendlich­en aus St. Columban gespielt.
FOTO: LYDIA SCHÄFER Das Wolfgang-Borchert-Theater aus Münster zeigt „Ghetto“, ein Schauspiel mit Gesang von Joshua Sobol. Der jüdische Kinderchor wird von Kindern und Jugendlich­en aus St. Columban gespielt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany