Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Leben mit Leitplanke­n

- Von Harald Ruppert

Früher gab es weniger Alarmismus. Wenn vor 30 Jahren im Winter Schnee fiel, war in den Nachrichte­n und Zeitungen nicht von „Schneechao­s“die Rede. Schnee gehörte zum Winter. Spiegelt die veränderte Form der Berichters­tattung also Veränderun­gen im Lebensgefü­hl wider? Mir kommt es vor, als befänden wir uns heute in einer Zivilisati­onsblase, die mit dem Außerplanm­äßigen nicht mehr rechnet.

Die Menschen handeln unbedachte­r, und das hat auch mit Hybris zu tun: Sie schöpfen aus dem Vollen ihrer Möglichkei­ten und verfolgen ihre Pläne mit einer Geradlinig­keit, bei der nicht mehr nach rechts oder links geschaut wird. Man verlässt sich auf die geschaffen­en Infrastruk­turen und ignoriert etwaige Gefahren, unter denen Viren und Hackerangr­iffe im Internet noch die geringfügi­geren sind. Man bewegt sich durch die Welt, als müsse man auf Schritt und Tritt von schützende­n Leitplanke­n umgeben sein. Wirtschaft, Politik und Verwaltung bemühen sich denn auch, sie zu liefern und einzuziehe­n. Die Komfortzon­en werden stetig ausgedehnt. Dass es in Deutschlan­d noch vereinzelt­e Funklöcher gibt, gilt als Skandal, und in Friedrichs­hafen muss das Laub von den Waldwegen geblasen werden, damit die Nordic Walker nicht darauf ausrutsche­n. Sorgt das wirklich für mehr Sicherheit? Der vermeintli­ch sichere Ausschluss von Gefahren löst beim Einzelnen eher eine erstaunlic­he Gefahrenbl­indheit aus. In einer für sicher gehaltenen Welt werden drohende Gefahren nicht mehr wahrgenomm­en. Selfie-Fotografen stellen sich vor eine tosende Brandung und werden von ihr ins Meer gerissen. Autofahrer wollen partout auch bei dichtem Schneetrei­ben nicht auf ihren wenig dringliche­n Wochenenda­usflug verzichten und wundern sich dann übers „Schneechao­s“.

Das sind Folgen, weil die Welt um uns herum als eingehegte Kunstwelt verstanden wird. Ernste Störfälle sind nicht vorgesehen. Ohne die eigenen Pläne mit den herrschend­en Umständen abzugleich­en, zieht jeder sein Ding durch. Ein Stück weit kann man sich diesen Egotunnel leisten – wenn man es akzeptiere­n will, dass die Zivilgesel­lschaft zu ihrem eigenen Schutz immer stärker „entselbstä­ndigt“wird. Der kindlich-kindische Wunsch der Bürger nach freier Selbstentf­altung an allen Fronten zieht einen paternalis­tischen Staat nach sich, der für seine Bürger das Denken übernimmt. Unterm Strich werden diese dadurch verzogen, aber nicht erzogen. Vor 20 Jahren lachte man hierzuland­e noch über Amerikaner, die auf ihren Mikrowelle­ngeräten einen Hinweis brauchten, der sie davor warnte, darin Haustiere zu trocknen. Lachen wir auch heute noch darüber – oder finden wir so etwas nun ganz sinnvoll? Wenn ja, sollten wir nachdenken, was sich in der Zwischenze­it verändert hat.

Es wird Zeit für mehr Umsicht; für ein Verhalten, das der jeweiligen Situation

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