Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Leben mit Leitplanken
Früher gab es weniger Alarmismus. Wenn vor 30 Jahren im Winter Schnee fiel, war in den Nachrichten und Zeitungen nicht von „Schneechaos“die Rede. Schnee gehörte zum Winter. Spiegelt die veränderte Form der Berichterstattung also Veränderungen im Lebensgefühl wider? Mir kommt es vor, als befänden wir uns heute in einer Zivilisationsblase, die mit dem Außerplanmäßigen nicht mehr rechnet.
Die Menschen handeln unbedachter, und das hat auch mit Hybris zu tun: Sie schöpfen aus dem Vollen ihrer Möglichkeiten und verfolgen ihre Pläne mit einer Geradlinigkeit, bei der nicht mehr nach rechts oder links geschaut wird. Man verlässt sich auf die geschaffenen Infrastrukturen und ignoriert etwaige Gefahren, unter denen Viren und Hackerangriffe im Internet noch die geringfügigeren sind. Man bewegt sich durch die Welt, als müsse man auf Schritt und Tritt von schützenden Leitplanken umgeben sein. Wirtschaft, Politik und Verwaltung bemühen sich denn auch, sie zu liefern und einzuziehen. Die Komfortzonen werden stetig ausgedehnt. Dass es in Deutschland noch vereinzelte Funklöcher gibt, gilt als Skandal, und in Friedrichshafen muss das Laub von den Waldwegen geblasen werden, damit die Nordic Walker nicht darauf ausrutschen. Sorgt das wirklich für mehr Sicherheit? Der vermeintlich sichere Ausschluss von Gefahren löst beim Einzelnen eher eine erstaunliche Gefahrenblindheit aus. In einer für sicher gehaltenen Welt werden drohende Gefahren nicht mehr wahrgenommen. Selfie-Fotografen stellen sich vor eine tosende Brandung und werden von ihr ins Meer gerissen. Autofahrer wollen partout auch bei dichtem Schneetreiben nicht auf ihren wenig dringlichen Wochenendausflug verzichten und wundern sich dann übers „Schneechaos“.
Das sind Folgen, weil die Welt um uns herum als eingehegte Kunstwelt verstanden wird. Ernste Störfälle sind nicht vorgesehen. Ohne die eigenen Pläne mit den herrschenden Umständen abzugleichen, zieht jeder sein Ding durch. Ein Stück weit kann man sich diesen Egotunnel leisten – wenn man es akzeptieren will, dass die Zivilgesellschaft zu ihrem eigenen Schutz immer stärker „entselbständigt“wird. Der kindlich-kindische Wunsch der Bürger nach freier Selbstentfaltung an allen Fronten zieht einen paternalistischen Staat nach sich, der für seine Bürger das Denken übernimmt. Unterm Strich werden diese dadurch verzogen, aber nicht erzogen. Vor 20 Jahren lachte man hierzulande noch über Amerikaner, die auf ihren Mikrowellengeräten einen Hinweis brauchten, der sie davor warnte, darin Haustiere zu trocknen. Lachen wir auch heute noch darüber – oder finden wir so etwas nun ganz sinnvoll? Wenn ja, sollten wir nachdenken, was sich in der Zwischenzeit verändert hat.
Es wird Zeit für mehr Umsicht; für ein Verhalten, das der jeweiligen Situation