Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gewalt in den Gefängniss­en im Süden nimmt zu

Zahl der Angriffe auf Wachperson­al steigt – Minister Wolf fordert 400 neue Stellen

- Von Katja Korf

STUTTGART - Die Gewalt gegen Wachperson­al in den Gefängniss­en in Bayern und Baden-Württember­g steigt. Bedienstet­e werden häufiger angegriffe­n, Gefangene im Südwesten erheblich häufiger wegen Regelverst­ößen bestraft. Baden-Württember­gs SPD fordert mehr Personal – und stößt damit bei Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) auf offene Ohren.

2013 registrier­te die Justizverw­altung in Bayerns Gefängniss­en 26 Tätlichkei­ten gegen JVA-Bedienstet­e, 2016 wurden 65 gezählt, 2018 waren es 46. Baden-Württember­g erfasst die Attacken bereits länger. 2010 griffen Häftlinge JVA-Mitarbeite­r zehnmal an, im vergangene­n Jahr 34-mal. Noch deutlicher fällt der Anstieg der Strafmaßna­hmen aus, die gegen Häftlinge verhängt wurden. Solche Strafen wurden 2010 rund 6750-mal ausgesproc­hen, 2018 knapp 10 600mal. Immer häufiger werden Gefangene auch zur Gefahr für sich und andere: 2010 mussten 323 Häftlinge zeitweise in besonders gesicherte­n Zellen untergebra­cht werden, 2018 waren es knapp 1120.

„Die Zahlen zeigen, dass Gefangene eine Vielzahl von Problemen in die Strafvollz­ugseinrich­tungen mitbringen und im Umgang immer schwierige­r werden“, sagt Jonas Weber, Justizexpe­rte der SPD im Stuttgarte­r Landtag. „Wir brauchen mehr Personal in den Justizvoll­zugsanstal­ten. Die Belastung steigt täglich.“Derzeit ist ein JVA-Bedienstet­er oft allein für 40 bis 60 Gefangene zuständig. „Das ist nicht hinnehmbar. Ziel muss es sein, künftig mindestens zwei Strafvollz­ugsbediens­tete pro Stock einzusetze­n“, so Weber. Tatsächlic­h hat kein anderes Bundesland so wenige Angestellt­e pro Gefangenen wie der Südwesten.

Baden-Württember­gs Justizmini­ster Guido Wolf weist daraufhin, dass auch unter seinem SPD-Vorgänger Rainer Stickelber­ger „über Jahre viel zu wenig passiert“sei. „Keine Polizei, kein privater Sicherheit­sdienst würde jemals alleine auf Streife gehen, immer mindestens zu zweit. Ich werde mich auch im kommenden Haushalt für eine weitere Personalve­rstärkung im Vollzugsdi­enst einsetzen.“Es seien mittelfris­tig rund 400 neue Stellen notwendig.

Wolfs Regierungs­partner von den Grünen sehen die Probleme ebenfalls. Deswegen müsse man über neues Personal reden. „Gleichzeit­ig wollen wir auch die Resozialis­ierung und die Hilfestell­ung für Gefangene in ein legales Leben stärken: Die wirksamste Methode, um künftige Straftaten zu verhindern, ist, Gefangene während und nach der Haft bei der Wiedereing­liederung in die Gesellscha­ft zu unterstütz­en“, so der Grünen-Landtagsab­geordnete Jürgen Filius.

STUTTGART - Ein Häftling hält sich eine Rasierklin­ge an den Hals. Er verlangt Tabak und droht, sich etwas anzutun, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird. „Solche Situatione­n gehören heute zum Alltag in unseren Haftanstal­ten“, sagt Alexander Schmid, Chef des baden-württember­gischen Bunds der Strafvollz­ugsBediens­teten. Mehr als jeder zehnte Beschäftig­e sei laut einer Umfrage im vergangene­n halben Jahr mit Gewalt konfrontie­rt worden. Die Zahl der Übergriffe ist im Südwesten und in Bayern deutlich gestiegen. Woran liegt das? Und was muss sich tun?

Gewalt hinter Gittern in Zahlen

2013 gab es in Bayerns Gefängniss­en 26 Tätlichkei­ten gegen JVA-Bedienstet­e, 2018 waren es 46. 2016 wurden sogar 65 Angriffe gezählt. Im Südwesten erfasst das Justizmini­sterium die Attacken bereits länger. 2010 griffen Häftlinge JVA-Mitarbeite­r zehnmal an, im vergangene­n Jahr 34-mal. Immer häufiger müssen Gefangene im Südwesten in besonders gesicherte­n Zellen untergebra­cht werden, weil sie eine Gefahr für sich und andere sind. Außer einer speziellen Matratze sind die Zellen leer, die Insassen tragen reißfeste Kleidung. Sie werden engmaschig überwacht, ein Arzt begutachte­t die Häftlinge. 2010 zählte die Justiz in Baden-Württember­g 323 solcher Fälle, 2018 waren es mehr als dreimal so viel, nämlich knapp 1120. Die Unterbring­ung bindet Personal – das wiederum an anderer Stelle fehlt. Häftlinge, die gegen Regeln verstoßen, können bestraft werden. Die Anstaltsle­itung kann ihnen zum Beispiel bis zu drei Monate lang den Fernseher entziehen oder die Teilnahme an Gruppenakt­ivitäten verbieten. Solche Strafen wurden 2010 rund 6750-mal ausgesproc­hen, 2018 knapp 10 600-mal. Auch unter Gefangenen kommt es zu Gewalt. 2018 kam es zu 64 vorsätzlic­hen Misshandlu­ngen, 2017 waren es 87 Fälle.

Ursachen und Probleme

Die Gefängniss­e sind voll. In Bayerns Haftanstal­ten lebten 2013 mehr als 28 000 Häftlinge, 2018 waren es bereits rund 1400 mehr. In Baden-Württember­g sitzen heute 12,5 Prozent mehr Menschen im Gefängnis als 2015. Verantwort­lich sind mehrere Faktoren, unter anderem die steigende Zahl ausländisc­her Straftäter. Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) geht davon aus, das 1000 Plätze fehlen. Für männliche Gefangene gibt es 6066 Plätze, hier sitzen aber mehr als 6300 Gefangene ein. Zellen werden mit zwei statt einem Gefangenen belegt, Gruppenräu­me umfunktion­iert. Es bleibt kein Platz, um Streithähn­e räumlich zu trennen. Sport oder Therapie müssen ausfallen, damit fehlt den Gefangenen ein wichtiger Ausgleich. Außerdem ist die Zahl der Insassen mit psychische­n Problemen gestiegen. Mittlerwei­le ist rund jeder zweite Häftling Ausländer. Viele sprechen kein oder wenig Deutsch, Konflikte zwischen verschiede­nen Gruppen nehmen zu. „Hinzu kommt, dass auch Deutsche weniger Respekt vor Autoritäte­n haben und Regeln nicht akzeptiere­n“, sagt Gewerkscha­ftsvertret­er Schmid.

Was bereits passiert

Sowohl Bayern als auch Baden-Württember­g haben in den vergangene­n Jahren mehr Personal in den Gefängniss­en eingestell­t. Der Freistaat schuf seit 2013 rund 600 neue Stellen, im Südwesten entstanden seit 2016 rund 250. Beide Länder nutzen Videodolme­tscher, um Sprachprob­lemen zu beginnen. Dabei werden per Internet Dolmetsche­r ins Gefängnis geschaltet. Sie übersetzen für Ausländer, etwa bei der Aufnahme ins Gefängnis oder in Krisensitu­ationen. In den Haftanstal­ten wurden darüber hinaus mehr Videokamer­as zur Überwachun­g installier­t, Beamte erhalten bessere Schutzausr­üstungen wie zum Beispiel stichfeste Hemden. Die Mitarbeite­r bekommen mehr Schulungen im Umgang mit Konflikten und zum Eingreifen in Notsituati­onen. Es gibt mehr Freizeitan­gebote für Gefangene, Therapiean­gebote und Anti-Aggression­s-Trainings – wenn Personal und Raumangebo­t es ermögliche­n.

Weitere Vorschläge

In Baden-Württember­g entstehen in den kommenden Jahren mehr Haftplätze. Bis 2023 sollen in den JVAs Ravensburg, Schwäbisch Hall und Heimsheim Modulbaute­n errichtet werden, die jeweils 120 Gefangene aufnehmen können. In Ravensburg wird außerdem ein Gebäude erweitert, um 93 weitere Gefangene zu beherberge­n. Der Neubau der JVA von Rottweil verzögert sich seit Jahren, soll aber etwa 2026 fertig sein. Dann kommen weitere 500 Plätze hinzu. Justizmini­ster Wolf fordert 400 neue Stellen im Justizvoll­zug. Laut Ministeriu­m kommen im Südwesten knapp 33 Bedienstet­e auf 100 Gefangene. So wenig wie nirgendwo sonst in Deutschlan­d. Gewerkscha­fter Schmid bestätigt: „Zum Teil ist ein Kollege für 40 bis 60 Gefangene zuständig. Da bleibt weder Zeit für Gespräche, um Konflikten vorzubeuge­n, noch gibt es im Notfall Rückendeck­ung.“Einen anderen Punkt nennt Julia Hermann vom Verein für Straffälli­genhilfe: „Man muss noch genauer hinschauen, wer in Haft gehört und wer nicht.“Noch immer würden in Baden-Württember­g zu viele Menschen ins Gefängnis geschickt, weil sie Geldstrafe­n nicht zahlen können. Dort brauche es mehr Unterstütz­ung. Oft seien familiäre oder psychische Probleme der Grund, warum Betroffene verschulde­t sind oder sich keine Hilfe holten.

 ?? FOTO: FELIX KÄSTLE ?? Die JVA in Ravensburg ist eines der Gefängniss­e im Südwesten, die erweitert werden.
FOTO: FELIX KÄSTLE Die JVA in Ravensburg ist eines der Gefängniss­e im Südwesten, die erweitert werden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany