Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Schwierige Abwägung
BGH: Bei Eigenbedarfskündigungen muss jeder Härtefall geprüft werden
KARLSRUHE/BERLIN (dpa) - Gerichte müssen bei Eigenbedarfskündigungen in jedem Einzelfall genau prüfen, ob ein Mieter vor die Tür gesetzt werden kann oder – ob er wegen eines Härtefalls in der Wohnung bleiben darf. Das unterstrich der Bundesgerichtshof (BGH) am Mittwoch bei zwei Verhandlungen.
Angesichts von Wohnungsnot und immer mehr älteren Mietern bereitet die Härteklausel Gerichten zunehmend Probleme. Der BGH sieht die Tendenz, dass viele Fälle schematisch und „nicht in gebotener Tiefe“gelöst werden. Dem will er offenbar mit seinen Urteilen am 22. Mai einen Riegel vorschieben.
Der BGH beschäftigte sich mit zwei Fällen, in denen die Vorinstanzen den Eigenbedarf bestätigt haben. Laut einem Urteil des Berliner Landgerichts darf eine Seniorin dennoch in der Wohnung bleiben: Die 80-Jährige, die seit 45 Jahren dort wohnt und der Demenz attestiert wurde, sei ein Härtefall. Dagegen legte ein Familienvater Revision vor dem BGH ein. Die Familie mit zwei kleinen Kindern lebt in einer Zwei-ZimmerWohnung und braucht selbst mehr Platz (VIII ZR 180/18). Darum wollte das Paar mit dem Nachwuchs in die vor Kurzem gekaufte 73 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung ziehen. Die 80-Jährige hatte sich dagegen gewehrt, die Wohnung verlassen zu müssen.
Der zweite Fall spielt in einem 9000-Einwohner-Ort in SachsenAnhalt. In Kabelsketal wehren sich zwei Mieter gegen den Rausschmiss aus einer Doppelhaushälfte. Die Eigentümerin meldete Eigenbedarf an: Sie will mit ihrem Lebensgefährten einziehen – ursprünglich, um die pflegebedürftige Großmutter in der Nähe besser zu unterstützen. Doch diese ist inzwischen tot.
Die Mieter, die seit 2006 mit zwei Verwandten in dem Haus wohnen, sehen den Eigenbedarf vorgeschoben. Auch halten sie einen Umzug aufgrund schwerer Erkrankungen für nicht zumutbar. Angeführt werden Parkinson, Depression, chronische Wirbelsäulenbeschwerden, 50prozentige Behinderung sowie eine Pflegestufe II und Alkoholkrankheit. Das Landgericht Halle hält den Umzug dennoch für zumutbar. Dagegen haben die Mieter Revision eingelegt (VIII ZR 167/17).
Bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe deutete es sich an, dass die Urteile vom BGH aufgehoben werden. In beiden Fällen vermissten die höchsten deutschen Zivilrichter eine gründliche Prüfung. Welche Verschlechterung durch einen Umzug für einen Mieter konkret zu befürchten sei, müsse notfalls ein Gutachter klären.
Alt sticht nicht immer Jung
Nach dem Gesetz kann ein Vermieter einem Mieter kündigen, wenn er Eigenbedarf für sich, seine Familie oder Angehörige seines Haushalts geltend macht. Der Mieter kann sich dagegen unter Verweis auf einen Härtefall wehren. Doch wann ist das der Fall? Laut Gesetz zum Beispiel, wenn eine angemessene Ersatzwohnung nicht zu zumutbaren Bedingungen beschafft werden kann. Nach Ansicht von Ulrich Ropertz, Geschäftsführer beim Deutschen Mieterbund (DMB), müssten auch Kriterien wie hohes Alter und Krankheit grundsätzlich schwerer wiegen als Vermieterinteressen.
Bei schwerer Krankheit und Demenz haben Mieter aus Sicht von Beate Heilmann, Wohnrechtsexpertin beim Deutschen Anwaltverein, gute Karten. Dies bedeute aber nicht, dass Alt immer Jung sticht: „Wenn ein 65-Jähriger drei Mal die Woche schwimmen und Sport treiben kann, kann er auch umziehen.“Das sieht der BGH offenbar ähnlich: „Es gibt auch 80-jährige Marathonläufer“, so die Vorsitzende Richterin Karin Milger bei der BGH-Verhandlung. Aber es gebe ebenso Menschen, denen es schon mit Anfang 60 schlecht geht.
Mieterbund-Geschäftsführer Ropertz geht von derzeit 80 000 Eigenbedarfskündigungen im Jahr aus und kritisiert: „Die Gerichte haben in den letzten Jahren die Eigenbedarfskriterien stark aufgeweicht.“Der Präsident von Haus & Grund Deutschland, Kai H. Warnecke, warnt hingegen vor „einseitiger Stimmungsmache“.
Wenn Gerichte nicht gründlich Härtefälle prüfen, bedeutet das aus Sicht von BGH-Richterin Milger für alle Seiten: „Steine statt Brot.“Niemandem sei am Ende dann wirklich geholfen. Potenzielle Käufer, die eine Wohnung irgendwann mal selbst nutzen wollen, müssen nach Erfahrung von Verbandspräsident Warnecke jedenfalls bereits beim Kauf eines im Blick haben: „Dass Eigenbedarf nicht immer ganz einfach umsetzbar ist.“