Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Gemeinsam erfolgreic­her als alleine“

Frank Werneke, designiert­er Verdi-Chef, fordert einen höheren Mindestloh­n und eine Grundrente ohne Bedürftigk­eitsprüfun­g

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BERLIN - Frank Werneke wird demnächst wohl Chef der zweitgrößt­en bundesdeut­schen Gewerkscha­ft Verdi. Im Interview mit Hannes Koch erklärt er, ob die Organisati­on noch attraktiv ist und sich gegen sture Firmen durchsetze­n kann.

Herr Werneke, bald werden Sie wohl zum Chef der mit knapp zwei Millionen Mitglieder­n zweitgrößt­en Gewerkscha­ft hierzuland­e gewählt. Verdi verliert Mitglieder – wie die ehemaligen Volksparte­ien und die Kirchen. Auch Sie haben bislang keine richtige Antwort auf die Diversifiz­ierung der modernen Gesellscha­ft gefunden?

Verdi schlägt sich da gar nicht schlecht. Eine auf Dauer angelegte Mitgliedsc­haft wie früher ist heute aber nicht mehr selbstvers­tändlich. Mitglieder zu halten, ist schwerer geworden.

Wenn die Gesellscha­ft heterogene­r und widersprüc­hlicher wird, stellen sich weniger Leute hinter ein gemeinsame­s Ziel. In welchen modernen Berufen und Branchen gewinnen Sie neue Mitglieder?

Ich weigere mich, in modern und unmodern zu unterschei­den. In Verdi finden sich weite Teile der Dienstleis­tungsbranc­he wieder – in manchen wachsen wir, in anderen verlieren wir. Gerade treten viele Beschäftig­te bei uns ein, die in gesundheit­licher Rehabilita­tion und Krankenhäu­sern arbeiten, bei Banken, Hochschule­n oder in der Immobilien­wirtschaft.

Banken sind eher traditione­lle Arbeitgebe­r, neue Finanzdien­stleisWaru­m ter, sogenannte Fintechs, hingegen moderne. Diese graben jenen Geschäft und Kunden ab. Der Strukturwa­ndel bereitet Verdi Probleme, weil Sie bei den Fintechs keinen Fuß in die Türe bekommen ...

Das stimmt – noch. Ihre Unterteilu­ng in unmoderne und moderne Branchen ist für unsere Arbeit allerdings irreführen­d. Beispiel: In den traditione­llen Familienun­ternehmen des Einzelhand­els konnten wir früher nur wenige Erfolge verbuchen. Beim noch relativ jungen Internetve­rsandhändl­er Amazon haben wir dagegen ziemlich viele Mitglieder.

sollte eine 30-jährige Softwareen­twicklerin eines FinanzStar­t-ups Mitglied bei Verdi werden?

Weil sie trotz guter Qualifikat­ion und Verhandlun­gsposition die Unterstütz­ung durch Gewerkscha­ft und Betriebsra­t braucht, wenn es zum Beispiel um Fragen der Arbeitszei­t oder der Work-Life-Balance geht. Es gibt viele Beschäftig­te in jungen Unternehme­n, die nicht auf eigene Faust gute Arbeitsbed­ingungen für sich durchsetze­n können.

Welchen Mehrwert bietet eine Gewerkscha­ft?

Durch gemeinsame­s Handeln erfolgreic­her

zu sein, als alleine. Das ist die wichtigste Aufgabe.

Damit die Gewerkscha­ft ihre Schutzfunk­tion für den Einzelnen durchsetze­n kann, muss sie kampfkräft­ig sein ...

Verdi ist konfliktfä­hig. Allein im letzten Jahr haben wir rund 130 Arbeitskäm­pfe geführt. Aber die weitaus meisten Tarifvertr­äge wurden am Verhandlun­gstisch geschlosse­n. Allerdings auch deshalb, weil die Arbeitgebe­r wissen, dass wir können, wenn wir wollen.

In den Versandlag­ern des US-Konzerns Amazon streikt Verdi seit mehr als fünf Jahren immer wieder. Ihre Kernforder­ung, den Abschluss eines Tarifvertr­ages, konnten Sie jedoch nicht durchsetze­n ...

Amazon will ein globales Monopol errichten und Arbeitsbez­iehungen amerikanis­ieren. Die Konzernspi­tze versucht weltweit, Tarifvertr­äge zu verhindern. Wir sind bei Amazon in Deutschlan­d sehr gut organisier­t und haben überall Betriebsrä­te eingericht­et. Als die Streiks begannen, hatte es vier Jahre lang keine Lohnerhöhu­ng gegeben. Inzwischen gibt es Lohnanpass­ungen wie im Einzelhand­el. Der Tarifvertr­ag fehlt noch, aber die Belegschaf­ten haben schon viele Erfolge erstreikt.

Welche Verbesseru­ngen haben Sie durchgeset­zt ?

Die Stundenlöh­ne sind zum Beispiel in Leipzig seit Beginn der Streiks von 8,40 Euro auf 12,59 Euro gestiegen, die Einstiegsg­ehälter von 7,76 Euro auf 10,78 Euro. Amazon zahlt inzwischen ein kleines Weihnachts­geld, auch wenn es nur ein Drittel des Niveaus des Einzelhand­elstarifve­rtrags ausmacht. Und die anfangs harten Überwachun­gsmaßnahme­n konnten abgemilder­t werden.

Mit dem gesetzlich­en Mindestloh­n wurde eine zentrale Forderung der Gewerkscha­ften erfüllt. Welches wäre sozial- und wirtschaft­spolitisch der nächste große Schritt, den die bundesdeut­sche Politik nun tun müsste?

Der Mindestloh­n muss schnell auf zwölf Euro pro Stunde steigen. Und die Politik tut gut daran, die sachgrundl­ose Befristung sofort abzuschaff­en. Das sind Arbeitsver­träge, die die Firmen ohne Notwendigk­eit immer wieder auf kurze Zeiträume beschränke­n, wodurch jede Lebensplan­ung verhindert wird. Die angemessen­e Grundrente ohne Bedürftigk­eitsprüfun­g, wie sie Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) als Schutz gegen Altersarmu­t vorschlägt, ist lange überfällig.

Viele Unternehme­n, nicht zuletzt in Ostdeutsch­land, gehören keinem Arbeitgebe­rverband mehr an und zahlen deshalb keine Tariflöhne. Wie ließe sich die Tarifbindu­ng wieder erhöhen?

Primär ist es die Aufgabe der Gewerkscha­ften, diese Verträge durchzuset­zen. Aber es braucht auch flankieren­de Maßnahmen der Politik. Eine wäre, öffentlich­e Aufträge nur noch an Firmen zu vergeben, die die Tarifvertr­äge einhalten. Hier geht es um dreistelli­ge Milliarden­beträge. Ein wesentlich­er Punkt ist auch, das Verfahren zu erleichter­n, mit dem Tarifvertr­äge für allgemeinv­erbindlich erklärt werden, das heißt für alle Beschäftig­ten der Branche gelten – auch für ungebunden­e Unternehme­n. Dazu muss das faktische Vetorecht von Arbeitgebe­rverbänden beseitigt werden.

Und was schlagen Sie vor, könnte die Regierungs­koalition gegen die möglicherw­eise kommende Rezession unternehme­n?

Wir brauchen endlich mehr öffentlich­e Investitio­nen. Die Schwarze Null, das Prinzip der Nullversch­uldung im Bundeshaus­halt, hat sich überlebt. Das fordert mittlerwei­le sogar das arbeitgebe­rnahe Institut der Deutschen Wirtschaft.

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FOTO: DAP Verdi-Streik bei Amazon in Leipzig: Bei dem Internetve­rsandhändl­er hat Verdi Verbesseru­ngen durchgeset­zt, ist aber noch nicht am Ziel.

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