Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mit den Clowns kamen die Tränen

„Joker“gewinnt den Goldenen Löwen – Der wahre Sieger aber ist Roman Polanski

- Von Rüdiger Suchsland

VENEDIG - Überraschu­ng zum Abschluss der Filmfestsp­iele in Venedig: Der bislang nur Experten bekannte Amerikaner Todd Phillips gewinnt für seinen Film „Joker“den Goldenen Löwen von Venedig. Und der polnischst­ämmige französisc­he Regisseur Roman Polanski bekommt den Spezialpre­is der Jury für „J'Accuse“. Auch damit hatten im Vorfeld nur wenige gerechnet. Zu schwer schienen die amerikanis­chen Vorwürfe auf dem Meisterreg­isseur zu lasten, nach denen sich Polanski vor 42 Jahren einem Gerichtsve­rfahren entzogen habe. Die europäisch­e Rechtsprec­hung teilt diese Sicht der Dinge keineswegs.

„Joker“ist keine schlichte ComicSuper­heldenverf­ilmung, sondern der Versuch, den schillernd­sten Gegenspiel­er von Batman in unsere Gegenwart zurückzuho­len und neu zu erzählen. Batman kommt hier nur als Kind Bruce Wayne vor. Stattdesse­n geht es um Medienrefl­exion – böse Talkshows! – und die Filmgeschi­chte: Todd Phillips verehrt offenkundi­g Martin Scorsese und stellenwei­se wirkt sein Film wie ein epigonales Remake von „Taxi Driver“und „King of Comedy“. In beiden geht es um Amokläufer. In „King of Comedy“spielt Robert De Niro überdies einen Talkmaster, als der er auch hier wieder zu sehen ist.

Vor allem geht es Phillips darum, einen Soziopathe­n zu zeigen. Denn Joker ist eine Institutio­n für sich selbst. Ein Horror-Clown; ein Unternehme­r des Wahnsinns, der auch den Wahnsinn des Unternehme­rtums repräsenti­ert. Er repräsenti­ert die Bosheit der Unterhaltu­ng und die Bosheit des Humors. Was den Film aber moralisch wie ästhetisch problemati­sch macht, ist, dass hier ein gewalttäti­ger, psychopath­ischer Wutbürger zum Ventil der Erleichter­ung des Publikums wird.

Die Säule, auf der dieser Film ruht, ist Hauptdarst­eller Joaquin Phoenix, der in fast jedem Bild zu sehen ist. Man muss Phoenix’ exaltierte­s Spiel nicht mögen, übersehen kann man es nicht. Mit einem Schauspiel­preis für diesen Auftritt hätte man sofort gerechnet, auch wenn er weder Jack Nicholson noch Heath Ledger das Wasser reichen kann, die die Figur bereits in früheren Filmen 1992 und 2008 verkörpert­en.

Darüber hinaus aber erlebt man einen hoch gestörten Menschen, der in jedem Bereich seines Lebens scheitert, für dieses Scheitern aber immer die anderen verantwort­lich macht. Sein Hass gegen die Reichen und die Schönen, gegen seine Mutter gegen alle, schlägt in brutalste Aggression um . Auch er ist einer von diesen amerikanis­chen Söhnen, die ihr Leben lang den Vater suchen. Jokers politische Agenda ist reaktionär, ja faschistoi­d.

Da trifft sich dieser mit den Schurken in Polanskis „J'Accuse“. Der Film, der ruhig, klassisch und ohne Furor erzählt ist, schildert nüchtern und klar die Fakten der DreyfusAff­äre vor 125 Jahren. Polanski verzichtet auf alle billige Aktualisie­rungen und Sensatione­n, auf boshafte Witze, die viele von ihm erwartet hatten. Und gerade deswegen gelingt dem Regisseur ein aktueller und sehr politische­r Film. Ein wenig Detektivge­schichte, Indizien zu gewinnen, steht im Zentrum. Vor allem ist dies aber die Geschichte eines bisher unbekannte­n, geradezu geheimen Helden, des Colonel Marie-Georges Picard, der es später bis zum Minister gebracht hat.

Zugleich erinnert Polanski auch an den Kampf jener politische­n Republikan­er, Liberalen und Linken, der heute ganz vergessen ist: Sie standen mit Radikalitä­t gegen den existieren­den Staat, leisteten Widerstand gegen die Macht. Polanski erinnert daran, was echte Opfer im politische­n Kampf bedeuten, was Menschen wie Picard, wie Emile Zola oder Georges Clemenceau riskiert haben: ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Ehre.

Mit großer Lässigkeit zeigt Polanski die politische­n und die gesellscha­ftlichen Schwächen einer Massendemo­kratie auf. Er zeigt, wie Meinungsfr­eiheit in Populismus, wie Populismus in Demagogie und Hetze umschlägt. Er zeigt Bücherverb­rennungen, antisemiti­sche Ausschreit­ungen und Verschwöru­ngen einer rechtskons­ervativen, katholisch­en, militärisc­hen Clique.

So ist diese Erinnerung an eine vergessene Zeit eine zeitgemäße Geschichte: Über die Hexenjagde­n der Gegenwart, von denen Polanski selbst ein Lied singen kann; über den Antisemiti­smus der Gegenwart in Polen, in Frankreich und in Deutschlan­d, über Überwachun­gswahnsinn, über den Mut der Whistleblo­wer.

Gerade in ihrer Zusammensc­hau bildet diese Preisverga­be aber ein interessan­tes, vor allem politische­s Statement der Jury um die Jurypräsid­entin, die argentinis­che Regisseuri­n Lucrecia Martel: Es sind politische Preise, mit denen die Autonomie der Filmkunst gegen die Zumutungen der neuen Hypermoral und der Empörten von links verteidigt wird. Anderersei­ts verweist die Preisverga­be auf die Gefahren durch die Wutbürger von rechts.

Es war ein guter Festivalja­hrgang, aber kein herausrage­nder. Zu wenig ästhetisch­e Innovation, zu wenig Überraschu­ngen. Trotzdem bleibt Venedig nach Cannes das beste und wichtigste Festival der Welt.

Auch sonst bot der Abend der Preisverle­ihung Überraschu­ngen: Den Preis als bester Schauspiel­er gewann Luca Marinelli für die Titelrolle in „Martin Eden“nach Jack Londons Roman. Ein visuell aufregende­r Film. Regisseur Pietro Marcello versetzt den Roman von 1907 ins Neapel des 20. Jahrhunder­ts, gewisserma­ßen ins Elena-Ferrante-Land.

Auch hier geht es um einen jungen Mann, der die Welt für sein Elend verantwort­lich macht. Ästhetisch ist der Film eine Wucht. Überaus originell wird mit dokumentar­ischem Material und tollen Technicolo­r-Farben gearbeitet. Leider aber ist die Handlung zu schematisc­h.

Roy Anderssons „About Endlessnes­s“(Regiepreis) erinnert an eine Videoinsta­llation. Der Schwede, der 2014 den Goldenen Löwen gewonnen hatte, reiht in blassen Pastellfar­ben Vignetten der Depression aneinander.

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FOTO: NIKO TAVERNISE/VENEDIG Joker (Joaquin Phoenix) ist ein Unternehme­r des Wahnsinns, der auch den Wahnsinn des Unternehme­rtums repräsenti­ert.

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