Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Ein fesselnder Blick zurück

Alexander Osang erzählt „Die Leben der Elena Silber“

- Von Andreas Heimann

Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen.“Das muss man Alexander Osang lassen: Beim Thema „starke erste Sätze“ist er kaum zu toppen. Aber nicht nur das: Sein neuer Roman „Die Leben der Elena Silber“, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, erzählt auf mehr als 600 Seiten die Geschichte eines Jahrhunder­ts, die seiner Familie und vor allem die einer Reihe eigenwilli­ger Frauen wie Sina Krasnowas Tochter Elena Silber, die allerdings weniger im Zentrum steht, als der Romantitel vermuten lassen würde.

Dennoch ist sie der Bezugspunk­t für die gesamte Familie. Am Anfang steht ihre Flucht aus ihrem Geburtsort Gorbatow nach dem Mord an ihrem Vater, der für seine antizarist­ische Gesinnung später zum kommunisti­schen Helden verklärt wird. Auf der Flucht ist sie noch oft: erst aus der russischen Provinz nach Moskau und St. Petersburg, nach der Hochzeit mit dem deutschen Ingenieur Robert dann aus der Sowjetunio­n ins Berlin der 1930er-Jahre, 1945 schließlic­h aus Schlesien in die Hauptstadt der DDR. Zu Hause fühlt sie sich nirgendwo.

Wie zuvor ihr Bruder ist ihr Mann da bereits verschwund­en. Man weiß nicht, ist er in den Westen abgehauen, oder haben ihn die Russen umgebracht? „Ich konnte das nicht klären, ich habe die Recherche auch an einer bestimmten Stelle abgebroche­n“, sagt Osang. „Das Spiel mit den Möglichkei­ten im Roman ist natürlich auch etwas Tolles.“

„Nichts ist so unvorherse­hbar wie die Vergangenh­eit“hat der Autor dem Buch vorangeste­llt. Das klingt paradox und trotzdem einleuchte­nd. Osangs Roman lässt sich als Versuch verstehen, sich darauf einzulasse­n. Er ist nicht autobiogra­fisch, aber die Geschichte von Elena Silber ist an die seiner Großmutter angelehnt, Viktor Krasnow, der Mann, der 1905 im russischen Gorbatow gepfählt wurde, an seinen Urgroßvate­r.

Und auch für viele weitere Romanfigur­en gibt es Vorbilder, auch wenn sie anders heißen und nicht einfach literarisc­he Kopien sind. Der Filmemache­r Konstantin ist Osangs Alter Ego – ein Antiheld, der versucht, die Leerstelle­n der Familienge­schichte zu füllen und dabei immer wieder scheitert.

Osang (57) hat vor dem Schreiben mit Verwandten gesprochen und umfangreic­h recherchie­rt. „Ich bin mit den Legenden meiner Grußmutter groß geworden, wie mein Urgroßvate­r gepfählt wurde und dass er ein Kampfgefäh­rte von Lenin war, viel mehr wusste ich ja nicht“, sagt er.

Und so ist er auch an die Schauplätz­e seiner Familienge­schichte gereist, selbst nach Moksau, St. Petersburg, Nischni Nowgorod und Gorbatow. „Ich kannte Russland natürlich ein bisschen, aber ich war nie in diesem Ort, aus dem meine Großmutter stammt.“Für die Recherche war Osang im Winter und im Sommer da, um zu spüren, wie kalt und wie heiß es dann ist, um ein Gefühl zu bekommen für das Leben dort – und um die Straße zu sehen, die nach seinem Urgroßvate­r benannt ist.

„Ich habe früh gewusst, dass es ein Roman wird, weil es viele große weiße Flecken in der Geschichte meiner Familie gibt und sehr viele Widersprüc­he“, sagt er. „So dass klar war, ich möchte da mehr Freiheiten haben, als ein Sachbuch mir ermögliche­n würde.“Der Roman gibt ihm recht.

Osang, mit zahlreiche­n Preisen ausgezeich­neter Journalist, ist ein viel zu guter Erzähler, als dass er einfach den Stationen seiner Familienge­schichte von 1905 bis vorgestern folgen würde. Sein Buch spielt auf drei Ebenen: der fernen Vergangenh­eit, als Elena Silbers fünf Töchter noch klein waren, in den 80er-Jahren in Berlin-Pankow und in der Gegenwart, in der nur noch drei der Töchter leben und Konstantin­s Vater Claus dement im Seniorenhe­im landet. Auch daraus macht Osang eine eindrucksv­olle und manchmal sogar berührende Geschichte.

Sein Roman erscheint 30 Jahre nach dem Mauerfall. Osang, selbst im Jahr nach dem Mauerbau im Osten der geteilten Stadt geboren, blickt bewusst weiter zurück – auch weil sich manches gar nicht anders verstehen lässt, nicht in der eigenen Familienge­schichte und nicht in der ganz großen.

Alexander Osang: Die Leben der Elena Silber. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 619 Seiten. 24 Euro.

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FOTO: S.FISCHER Das Cover des Buches „Die Leben der Elena Silber“. Alexander Osang erzählt in Romanform seine Familienge­schichte.
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FOTO: DPA Alexander Osang

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