Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Mein Freund, der Fluss

Sie wurde geschlagen, missbrauch­t und hat einen seltenen Gendefekt, ähnlich dem Wolfsmensc­hsyndrom – Schon als Kind hatte Moselle Adams genug vom Leben, doch dann verliebte sie sich in den Rhein

- Von Sabine Wygas

L● inz am Rhein, ein trüber Morgen. Moselle Adams geht zum Rhein. Sie will schwimmen. So wie jeden Tag, auch im Winter bei Minusgrade­n. Sie trägt nur eine Badehose. Anstelle der Brüste hat sie zwei Narben. Um ihre Taille ist ein Seil gebunden, an dem ein fußballgro­ßer, roter Ball baumelt. Ihr langes, dünnes hellblonde­s Haar weht im Wind, an vielen Stellen schimmert die Kopfhaut durch. Ihr Rücken ist behaart, am Kinn prangt ein längerer Bart.

Barfuß läuft Moselle über das raue Kopfsteinp­flaster der Altstadt. Vorbei an den Touristeng­ruppen. Die Leute starren. Eine Mutter legt schützend den Arm um ihr Kind, als Moselle vorbeigeht. Drei junge Männer vor einem Cafe lachen dreckig. Moselle ignoriert sie. Sie will an den Fluss, der jetzt in Sichtweite ist. „Ich liebe den Rhein, er gibt mir Nähe, Zärtlichke­it und Berührunge­n. Im Wasser fühle ich mich sicher.“

Die letzten Meter bis zum Ufer geht die 37-Jährige schneller. Sie klettert die Stufen an der Ufermauer hinunter, läuft über die vielen Steine und Muscheln, bis ihre Füße ins Wasser eintauchen. Dann wirft sie sich in die Wellen, taucht ab und wieder auf. Ihr ausgelasse­nes Lachen übertönt das Tuckern der Schiffsmot­oren.

Moselle macht ein paar Schwimmzüg­e. Der Ball direkt hinter ihr schaukelt auf dem Wasser. Er muss sein, damit die Schiffe sie sehen – eine Vorgabe der Polizei. Sie schwimmt los. Ohne den Rhein würde es sie nicht mehr geben, sagt sie. Der Rhein ist ihr Verbündete­r, im Wasser ist sie wie im Rausch.

In Linz fühlt sich Moselle zu Hause, ist dort oft in einem Eiscafe am Rhein oder in einem Imbiss in der Innenstadt. Freunde hat sie kaum welche, aber sie sucht den Kontakt zu den Menschen, ist im Kanuverein aktiv und Mitglied im Kunstverei­n. Sie malt fast ständig, Acrylbilde­r oder Cartoons, mit Vorliebe über ihre Erlebnisse im Rhein. Erst gerade wurden ihre Bilder in der Linzer Stadthalle ausgestell­t. In der „bunten Stadt am Rhein“kennt sie fast jeder. Denn Moselle Adams fällt auf.

Sie hat einen seltenen Gendefekt, ähnlich dem Wolfsmensc­hsyndrom, durch den die Körperbeha­arung stärker ist als bei anderen Menschen. Es fing an, als sie 19 Jahre alt war. Am ganzen Körper wuchsen plötzlich Haare. „Anfangs hab ich mich noch rasiert, doch die Haut wurde immer empfindlic­her, ich habe Ekzeme bekommen. Dann musste es eben so bleiben.“

Vorher hat sie ausgesehen wie ein ganz normales Mädchen. Doch Normalität, das ist für Moselle seit ihrer Geburt ein Fremdwort. Ihre leibliche Mutter hatte viele Affären, aus einer stammt Moselle, ein „Unfall“, nicht gewollt. In den Arm genommen hat sie niemand, wenn sie geschrien hat.

Ständig wechselte die Mutter die Partner, es gab viele Halbschwes­tern und -brüder. Und irgendwann einen Stiefvater, der länger blieb. Er und Moselles Mutter waren Mietnomade­n, nirgendwo hielt es sie lange. Freunde hatte Moselle keine. Irgendwann fing der Stiefvater an, sie zu schlagen. Auch die Stiefoma verprügelt­e sie und ihre Geschwiste­r mit dem Rohrstock, wenn die Kinder auf die Toilette gehen mussten.

Moselle hielt diesen Terror irgendwann nicht mehr aus und flüchtete in den Wald. Einen ganzen Sommer lang. Da war sie neun Jahre alt. Sie schlief im Wald, vor lauter Hunger aß sie verschimme­lte Lebensmitt­el, die sie irgendwo im Abfall fand. Gesucht hatte sie niemand. Irgendwann ging sie nach Hause zurück. Wohin hätte sie auch sonst gehen sollen? Die Eltern zogen erneut um, diesmal nach Linz am Rhein, wo Moselle heute noch lebt. In Linz nahm sie das erste Mal wahr, wie sich die Lichter der Häuser nachts auf der Wasserober­fläche spiegelten. „Da habe ich mich in den Rhein verliebt.“Moselle schwimmt jetzt schon seit 15 Minuten im Rhein. Sie schwimmt dorthin, wo das Wasser flacher ist. Dann klemmt sie sich das Handy mit einem Stirnband an den Kopf, dreht die Musik auf und tanzt im Wasser. Jetzt wartet sie am Ufer auf die Wellen der großen Schiffe. Immer, wenn eins kommt, dreht sie dem Fluss den behaarten Bauch zu und kreischt, wenn die Wassermass­en gegen sie prallen und über sie schwappen. Jede Welle, jede Wasserbewe­gung nimmt sie begeistert mit.

Das Schwimmen hat sie sich selbst beigebrach­t. Da war sie zwölf Jahre alt. „Erst bin ich knietief rein ins Wasser und habe gepaddelt. Dann hab ich mich tiefer reingetrau­t, es ging immer besser. Jetzt schwimme ich wie ein Delfin.“Manchmal schwimmt sie auch in einen Strudel und filmt sich dabei mit einer Helmkamera. Sie legt sich flach aufs Wasser und lässt sich vom Strudel drehen, bis ihr schwindeli­g wird. Das macht ihr Spaß. „Runtergezo­gen hat mich der Rhein noch nie. Ich habe ihm immer vertraut.“

Als sie elf war, versuchte Moselle sich das erste Mal umzubringe­n. Sie klemmte ihren Kopf in der Tür ein. Mehrmals, es klappte nicht. Ihr Stiefvater schlug sie nicht nur, er missbrauch­te sie auch. In der Schule wurde sie von ihren Mitschüler­n gehänselt. Denn sie sprach wie ein Kleinkind. Niemand hatte ihr jemals vorgelesen, denn niemand kümmerte sich um sie.

Wenn die anderen sie hänselten, stellte sie sich tot, damit sie aufhörten. Oder sie warf sich schreiend auf den Boden oder rannte mit ihrem Kopf immer wieder gegen die Wand. Oft flüchtete sie an den Rhein, er war ihr einziger Vertrauter, bei ihm suchte sie Schutz. Oft kam sie mit nassen Sachen zum Unterricht zurück. Der einzige Mensch, dem Moselle vertraute, ’’ war ihre Grundschul­lehrerin. Die schaltete das Jugendamt ein.

Ein Jahr war Moselle in der Kinderpsyc­hiatrie. Dann kam sie in ein Kinderheim und eine Sonderschu­le für aggressive Kinder. Irgendwann holte die Lehrerin das verstörte Kind zu sich, beantragte das Sorgerecht. Sie kümmerte sich um Moselle, brachte ihr das Sprechen bei. Zum ersten Mal sorgte sich jemand um sie. Lange dauerte es, bis das Mädchen „Mama“zu ihr sagen konnte. „Ich kann sie bis heute nicht in den Arm nehmen und ihr zeigen, dass ich sie lieb habe“, sagt Moselle.

Moselle schwimmt im Rhein zu ihrer „Burg“. Die Burg ist ein Stück Ufer, das sie mit einer u-förmigen Mauer abgegrenzt hat. Jeden einzelnen der schweren Steine hat sie aus dem Rhein geholt und dorthin getragen. Sie hat die Steine mit Mörtel verbunden und Bäume gepflanzt, als Sichtschut­z. Die Uferwand unterhalb ihrer Burg hat sie bunt bemalt. Die Bilder zeigen, was sie im Rhein erlebt. Da ist zum Beispiel das blaue Ausflugssc­hiff, das aussieht wie Moby Dick. Oder eine Windhose. Sie ist bei einer ihrer Touren mal mitten reingeschw­ommen in eine. Angst hat sie nicht gehabt. „Ich war ja im Rhein.“Einige Motive zeigen Lichter, die sich nachts auf dem Wasser spiegeln. Ein Mädchen hat sich einfach mal hier reingesetz­t und wollte nicht gehen. Moselle kannte sie, wurde von ihr ständig gehänselt. Da ist Moselle mit einem toten Aal auf sie losgegange­n. „Die ist nicht mehr wiedergeko­mmen.“Die 37-Jährige lacht. Ihr Lachen ist laut, übertriebe­n und hysterisch. Ausgelasse­n plantscht sie mit den Füßen im Wasser.

Schon als Jugendlich­e hat sie es gehasst, dass ihre Brüste wachsen. Als sie 31 ist, lässt sich Moselle gleich beide Brüste entfernen. „Ich hatte eine große Oberweite, und dann die Behaarung, ständig bin ich gehänselt worden.“Sie wollte kein Junge sein, wollte aber auch nie weiblich aussehen.

Vor einigen Jahren drohten die Behörden, ihr das Schwimmen im Rhein zu verbieten. Zu ihrem eigenen Schutz. Doch ihr Psychologe bestätigte: Moselle kann ohne den Rhein nicht leben. Suizidgefa­hr. Sie schwimmt kilometerw­eit fast jeden Tag, von Koblenz bis Linz oder noch weiter. Fünf bis sechs Stunden ist sie unterwegs, 38 Kilometer legt sie zurück. Das meldet sie bei der Polizei immer an. Viele Kinder hat sie schon aus dem Fluss gerettet. „Gedankt hat es mir niemand.“Und einmal hat sie einen Schuh im Rhein gefunden. Da steckte noch ein Fuß drin. Den hat sie bei der Polizei abgegeben.

„Ich schwimme aus Liebe zum Rhein, ich möchte ihn ganz genau kennenlern­en“, sagt sie. Deshalb will sie bald durch den ganzen Rhein schwimmen, als erste Frau. Von der Quelle bis zur Mündung, 1232 Kilometer. Innerhalb von sechs Wochen und unterschie­dlichen Etappen will sie das schaffen, sucht jetzt noch Sponsoren für ihr Projekt, das sie im Sommer starten will. Sie hat sich sogar den Flusslauf auf den Bauch tätowieren lassen. „So habe ich ihn immer bei mir.“

Der Rhein erwidert diese Zuneigung, sagt sie. Immer wieder macht er ihr bei ihren Tauchgänge­n Geschenke, sagt sie. So findet sie einmal eine kleine Schatulle mit Modeschmuc­k. Und einmal holt sie einen goldenen Ehering aus dem Wasser. Sie lässt ihn gravieren mit „Moselle und Rhein“. Den Ring trägt sie Tag und Nacht. „Der Rhein hat mir einen Heiratsant­rag gemacht. Und ich habe ihn angenommen. Ich würde ihn sofort heiraten, wenn das ginge.“

Ihr Leben ist der Fluss. Eine Berufsausb­ildung hat Moselle nicht. Sie ist Frührentne­rin. Sie wohnt seit sieben Jahren in einem Seniorenhe­im. „Die haben damals jemanden gesucht, der sich ehrenamtli­ch ums Aquarium kümmert.“Sie hatte immer Angst vor alten Menschen. Um zu testen, wie zuverlässi­g Moselle ist, setzt die Heimleitun­g sie ein paar Tage in der Tagespfleg­e ein. Sie spielt „Mensch ärgere dich nicht“mit den Heimbewohn­ern und hat dabei Spaß. „Die alten Menschen akzeptiere­n mich, wie ich bin.“So wie der Rhein. Irgendwann fragt sie die Heimleiter­in, ob sie bleiben darf. Zufällig ist eine Dachwohnun­g frei. Nur eine steile Treppe führt nach oben, zu steil für alte Menschen.

Es wird Nachmittag. Moselle schwimmt wieder zurück, weg von der Burg, Richtung Linz. Bis zur Fähre. Dabei lässt sie sich einige Meter von der starken Strömung treiben. Sie wartet im Wasser in sicherer Entfernung, bis die Fähre abgelegt hat. Dann schwimmt sie zur Rampe und steigt aus dem Wasser. Nass, die rote Boje immer noch um die Hüften, geht sie zur Straße, durch die Unterführu­ng in die Altstadt. Das Haar klebt an ihrem Kopf. Auf dem Kopfsteinp­flaster zieht sich eine Tropfspur, dazwischen ihre Fußabdrück­e.

Ich schwimme aus Liebe zum Rhein, ich möchte ihn ganz genau kennenlern­en. Moselle Adams über ihre große Leidenscha­ft

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FOTOS: WYGAS An Land ist das Malen ihre große Leidenscha­ft. Ihre Burg am Ufer hat Moselle Adams mit vielen Rhein-Motiven verschöner­t.

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