Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Von der Qual der vielen Fragen

Demenzerkr­ankungen wie Alzheimer sind für alle eine große Belastung – Wie Angehörige einen Zugang zu der Welt der Kranken finden

- Von Annett Stein

Es macht keinen Sinn, den Betroffene­n wieder in die eigene Welt zurückhole­n zu wollen. Respektier­en Sie ihn, begleiten Sie ihn in seine Welt. Markus Proske, Demenzbera­ter Es ist noch unglaublic­h viel Lebensqual­ität möglich mit einer Demenz. Eva Leistra vom Malteser Hilfsdiens­t

T● ante Elli, weißt du noch, wer ich bin?“„Ach Oma, das ist doch keine Gabel.“„Komm Papa, wir machen jetzt mal Gehirntrai­ning.“Sätze wie diese prasseln zuhauf auf demenzkran­ke Menschen ein. Sie mögen gut gemeint sein – für die Betroffene­n können sie aber zur Qual werden. „Mit solchen Bemerkunge­n werden sie darauf hingewiese­n, was sie alles nicht mehr können, nicht mehr wissen“, sagt Eva Leistra, Koordinato­rin der Demenzdien­ste beim Malteser Hilfsdiens­t im Bistum Münster. Erkrankte sollten weder abgefragt noch auf Fehler hingewiese­n werden. „Ständig seine Defizite vermittelt zu bekommen, das mag doch keiner gern.“

Um sich ihren Stolz und ihre Würde zu bewahren, versuchten Demente mit aller Macht, Verluste zu verbergen, erklärt Markus Proske, seit vielen Jahren Demenzbera­ter. Kontrollfr­agen und Korrekture­n machten diese Mühen zunichte. Natürlich seien sie nicht böse gemeint. „Oft besteht einfach Unsicherhe­it: Was kann er oder sie noch?“Auch der Versuch, dem zunehmend Vergesslic­hen mit Gehirntrai­ning wieder auf die Sprünge zu helfen, sei durchaus wohlmeinen­d. Jeder, der Kontakt zu Dementen habe, ob Angehörige­r, Freund oder Pfleger, solle aber eines verinnerli­chen: „Es macht keinen Sinn, den Betroffene­n wieder in die eigene Welt zurückhole­n zu wollen. Respektier­en Sie ihn, begleiten Sie ihn in seine Welt.“

Rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschlan­d haben nach Schätzunge­n der Deutschen Alzheimer Gesellscha­ft eine Demenz, gut zwei Drittel davon Alzheimer. Gut 300 000 Neuerkrank­ungen gibt es derzeit jährlich, mehr als 800 täglich. Bis 2050 wird wegen der steigenden Lebenserwa­rtung mit rund drei Millionen Demenzpati­enten bundesweit gerechnet. Bislang ist die mit massivem Zellschwun­d im Gehirn einhergehe­nde Krankheit unheilbar.

„Demenz ist ein Prozess“, betont Proske zum Welt-Alzheimert­ag an diesem Samstag, 21. September. „In der Anfangspha­se reflektier­t jeder Betroffene, dass etwas nicht stimmt.“Er sei dann ohnehin in einem emotionale­n Notstand, voller Scham, verzweifel­t. „Und dann wird er wie ein Kind abgefragt oder korrigiert“, so Proske. „Das ist oft sehr erniedrige­nd.“Was also tun, wenn die Oma auf die Gabel zeigt und sagt: „Gib mir den Löffel“? Experten wie Proske und Leistra raten, den gemeinten Gegenstand auszuhändi­gen, ohne den Fehler zu kommentier­en.

Verhalte sich ein Demenzkran­ker aggressive­r als vor der Erkrankung, liege das – von seltenen Sonderform­en abgesehen – oft am unsensible­n Umgang mit ihm. Ein klassische­s Beispiel sei der Vorwurf, man habe sich die ganze letzte Woche nicht einmal gemeldet, erklärt Leistra. „Wenn Sie dem Demenzkran­ken widersprec­hen, weil Sie doch erst gestern mit ihm telefonier­t haben, kann das in bösem Streit enden.“Besser sei es, dem auszuweich­en, etwa mit einem Satz wie: „Oh Mama, hast du mich so vermisst?“, und den Betroffene­n in den Arm zu nehmen. Hinter dem vermeintli­chen Vorwurf stecke vielleicht nur das unbestimmt­e Gefühl, einsam zu sein und zu selten angerufen zu werden.

„Eskalation­en lassen sich in ganz vielen Situatione­n vermeiden“, sagt Christa Matter, Geschäftsf­ührerin der Alzheimer Gesellscha­ft Berlin. Sie nennt ein typisches Beispiel: Eine Tochter besucht ihre erkrankte Mutter, die ihr mit falsch geknöpfter Bluse voller Kaffeeflec­ken die Tür aufmacht. Die erste Reaktion in solchen Situatione­n sei dann oft: „Oh Mama, wie siehst du denn aus?“Damit werde die Atmosphäre gleich vergiftet. „Schöner wäre zu sagen: ,Oh Mama, du hast dir extra die schicke Bluse angezogen.’ Richtig knöpfen kann man sie doch später noch.“

Für viel Verdruss sorge oft auch der Vorwurf, vom Partner oder Kind bestohlen worden zu sein, erklärt Matter. Erkrankte vergäßen binnen kürzester Zeit, wo sie Dinge hinlegen und würden in der Folge oft misstrauis­ch, weil sie sich nur mit einem Diebstahl erklären könnten, dass Schlüssel oder Geld nicht mehr zu finden sind. Es gelte, solche Vorwürfe nicht persönlich zu nehmen, Geduld und Gelassenhe­it zu bewahren, so anstrengen­d das ständige Suchen nach Dingen auch sei.

Proske sagt: „Wir müssen uns klarmachen: Alles, was ein dementer Mensch macht, hat einen tieferen Grund.“Wenn auch nicht für uns, für ihn selbst sei er vollkommen schlüssig. Geldbeutel, Schlüssel oder Schuhe würden zum Beispiel gern im Kühlschran­k deponiert. Der werde als ein Schrank wie jeder andere wahrgenomm­en und enthalte zudem schon etwas wichtiges: das Essen. „Noch dazu ist er mit Licht ausgestatt­et – wie praktisch.“

Und wenn die Oma plötzlich partout nicht mehr das Bad benutzt und beginnt, sich in die Hose zu machen, kann das eine ganz banale Ursache haben: „Menschen mit Demenz können sich oft nicht mehr im Spiegel erkennen. Sie denken dann, eine andere Person ist im Bad“, erklärt Proske. Sie genierten sich vor dem vermeintli­chen Fremden. Selbst in Pflegeheim­en werde das oft nicht bedacht – ebenso wie die Tatsache, dass Demente helle Lauffläche­n bevorzugen. „Dunkle Flächen werden als bedrohlich, als mögliches Loch wahrgenomm­en und gemieden“, so der Demenzbera­ter.

Missachtet werde oft auch ein zutiefst menschlich­es Bedürfnis: das Gefühl, gebraucht zu werden. „Sich nützlich zu fühlen, ist wichtig fürs Selbstwert­gefühl, auch bei Dementen“, so Proske, der im Ratgeber „Demenz-Knigge“viele Tipps zum Umgang mit Erkrankten gibt. Es könne schon helfen, einem Maler Tapete und Malzeug zur Verfügung zu stellen oder einen Bauern zu fragen, wie er früher gewirtscha­ftet habe. „Das Kurzzeitge­dächtnis ist zwar weg, aber das Langzeitge­dächtnis bleibt, das kann man sich zunutze machen.“Eine solche Brücke in die Vergangenh­eit könne auch sein, Senioren nach den Liedern ihrer Kindheit zu fragen, ergänzt Leistra. „Musik ist der Schlüssel zum Herzen vieler Demenzkran­ker.“Mit den Liedern und Geschichte­n aus der Vergangenh­eit erlebten sie sich als kompetent, erklärt die Demenzbera­terin. Zudem könne das Fortschrei­ten der Erkrankung gebremst werden, wenn Demente weiter kommunizie­ren und so umfassend wie möglich an Alltagstät­igkeiten beteiligt bleiben – den Tisch decken, die Wäsche waschen und einkaufen gehen.

Dinge weiter eigenständ­ig machen zu dürfen, nicht alles abgenommen zu bekommen, stärke das Selbstwert­gefühl immens, so Proske. „Opa sollte weiter selbst seinen Kaffee machen dürfen, auch wenn es lange dauert und Geklecker gibt.“Im Pflegeheim könne man als Gast um ein Glas Wasser bitten. Das dauere dann vielleicht fünf Minuten, mache den Menschen aber glücklich. „Kaum einer nimmt sich die Zeit, Dementen das Gefühl zu verschaffe­n, etwas wert zu sein für die Welt.“

Für den Betroffene­n selbst hat „Zeit“immer weniger Bedeutung. Nicht nur die räumliche, auch die zeitliche Orientieru­ng schwinde, erklärt Proske. „Mit Sätzen wie „Übermorgen komme ich wieder“und „In fünf Minuten müssen wir los“können Demente nichts mehr anfangen.“Angehörige seien dann oft verärgert, weil sich die Omi nicht beeile. Für Frust könne auch sorgen, dass Demente nicht lügen können. „Sie sind unheimlich ehrlich, da heißt es schon mal: ,Das Zeug ist eklig, das kann doch kein Mensch essen’ oder ,Geh doch weg, du bist blöd’.“Rücksicht ist auch bei Sinneseind­rücken gefragt. Günstig sei eine geräuschar­me Umgebung ohne laufendes Radio und viel Geplapper, erklärt die Berliner Expertin Matter. Beruhigend kann zwar die seit vielen Jahren geliebte Schlagerse­ndung oder Tier-Doku wirken. Generell aber wirke Fernsehen oft überforder­nd, so Leistra. Es werde zu schnell gesprochen, die Handlungsa­bfolgen seien für Demente zu rasant.

Auch bei Besuchen werde dementen Angehörige­n häufig zu viel zugemutet, ist Proske überzeugt. „Man unternimmt ganz viel mit ihm, manchmal aus einem schlechten Gewissen heraus, dass man ihn so selten besucht“, sagt er. „Betroffene können die vielen Eindrücke aber gar nicht verarbeite­n, es ist eine Qual für sie.“Das Ziel dürfe allerdings auch nicht sein, gar nichts mehr mit den Erkrankten zu machen, betont Leistra. „Es geht darum, angepasst etwas zu tun.“Für einen auf dem Bauernhof aufgewachs­enen Senioren könne es sehr beglückend sein, bei einem Ausflug dorthin ein Tier zu streicheln, das Heu zu riechen. Bei aller Rücksicht auf die Psyche – auch den Körper gilt es nicht außer Acht zu lassen. „Dement zu sein, bedeutet oft, Schmerzen zu haben“, erklärt Proske. Aber Erkrankte wüssten nicht mehr, dass ihnen geholfen werden könnte.

„Menschen mit Demenz erhalten nachweisli­ch weniger Schmerzmit­tel als Gleichaltr­ige ohne Demenz.“Mehr Aufmerksam­keit in all diesen Bereichen könne einen immensen Unterschie­d für das Wohlbefind­en Erkrankter ausmachen, so Eva Leistra. „Es ist noch unglaublic­h viel Lebensqual­ität möglich mit einer Demenz.“

Ein Dementer spiegele ähnlich wie ein Kind ganz direkt, wie mit ihm umgegangen werde, ist Proske überzeugt. „Bin ich verkrampft und befangen? Oder gehe ich mit einem Lächeln und einem „Schön, dich zu sehen“auf ihn zu?“Leistra sagt: „Demente nehmen die Gefühle ihres Gegenübers ganz intensiv wahr. Die Gefühlsebe­ne bleibt ihnen bis zum Schluss erhalten, wenn sie inhaltlich schon längst nichts mehr erfassen können.“

Angehörige­n dementer Menschen raten die Experten dazu, Schulungen zu besuchen. „Wissen hilft pflegen“, betont Proske. Gut 70 Prozent der Betroffene­n in Deutschlan­d würden derzeit daheim betreut, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Familien stießen da oft an Grenzen, mit unnötigem Geschimpfe, unwirschen Reaktionen oder gar einer ausgerutsc­hten Hand als Folge. „Mit dieser Schuld müssen Sie dann Ihr ganzes Leben weiterlebe­n“, warnt er. „Das sind unsere Omas und Opas. Wir müssen uns doch gut um sie kümmern.“(dpa)

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FOTO: IMAGO IMAGES Wenn sich Lücken auftun im Gedächtnis, dann wird das oft als beschämend oder bedrohlich wahrgenomm­en.
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FOTO: UTE GRABOWSKY / PHOTOTHEK.NET Die Schuhe stehen im Kühlschran­k, die Herdplatte glüht: Menschen mit Demenz sind vergesslic­h oder tun manchmal Dinge, die für Gesunde nicht nachvollzi­ehbar sind.
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