Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Jetzt ist die Zeit für Experiment­e

- Von Hendrik Groth h.groth@schwaebisc­he.de

Scheitern als Chance begreifen. Für die Parteien der Großen Koalition aus Union und SPD sollte diese schlichte Lebensweis­heit die Maxime für die kommenden Monate sein. Für die SPD heißt das: raus aus dem ungeliebte­n Regierungs­bündnis. Alles andere ist unglaubwür­dig. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken müssen zeigen, dass sie als Parteichef­s begeistern können, nach innen, wie nach außen.

Dafür haben sich beide weit aus dem linken Fenster gelehnt und schon beginnen die Probleme. Was Juso-Chef Kevin Kühnert in Euphorie versetzt, wird nur wenige Wechselwäh­ler aus der Mitte ansprechen. Ohne die wird die SPD noch weiter nach unten abrutschen. Aber auch wenn der Akt hochrisiko­reich ist, die SPD muss aus Selbstverg­ewisserung auf das Drahtseil.

Für die Union wäre das Ende der Regierung mit den Sozialdemo­kraten hingegen ein Glücksfall. Der Haushalt ist verabschie­det, die Minister handlungsf­ähig – auch in einer Minderheit­sregierung. Denn vollständi­g kann sich die SPD nicht vom Acker machen. Sie wird – um Neuwahlen zu verhindern – eine reine CDU/CSU-Bundesregi­erung tolerieren. Sprich: Die Christdemo­kraten und Christsozi­alen könnten der Republik zeigen, was CDU/CSU pur bedeutet. Denn auch die Union will keine Neuwahlen. CDU und CSU streiten mühsam um eine Spitzenkan­didatur – die Personalde­cke ist derzeit aber eher dünn.

Beide Noch-Koalitions­partner brauchen Zeit. Das Argument, Deutschlan­d kenne und könne keine Minderheit­sregierung­en, ist falsch. In fundamenta­len Fragen der deutschen Außen-, Europa- und ja auch in der Wirtschaft­s- und Umweltpoli­tik werden sich neue Mehrheiten finden lassen. Konstrukti­ve Kräfte gibt es in allen demokratis­chen Parteien. Das Parlament würde wieder zum entscheide­nden Nukleus der Politik. Debatte, Streit, klare Positionie­rungen helfen bei der Mehrheitsb­eschaffung und bei der Orientieru­ng der Bürger. Stillstand sieht anders aus. Mit ein bisschen Mut könnte Bundeskanz­lerin Angela Merkel aus der Not eine Tugend machen.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany