Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Jetzt ist die Zeit für Experimente
Scheitern als Chance begreifen. Für die Parteien der Großen Koalition aus Union und SPD sollte diese schlichte Lebensweisheit die Maxime für die kommenden Monate sein. Für die SPD heißt das: raus aus dem ungeliebten Regierungsbündnis. Alles andere ist unglaubwürdig. Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken müssen zeigen, dass sie als Parteichefs begeistern können, nach innen, wie nach außen.
Dafür haben sich beide weit aus dem linken Fenster gelehnt und schon beginnen die Probleme. Was Juso-Chef Kevin Kühnert in Euphorie versetzt, wird nur wenige Wechselwähler aus der Mitte ansprechen. Ohne die wird die SPD noch weiter nach unten abrutschen. Aber auch wenn der Akt hochrisikoreich ist, die SPD muss aus Selbstvergewisserung auf das Drahtseil.
Für die Union wäre das Ende der Regierung mit den Sozialdemokraten hingegen ein Glücksfall. Der Haushalt ist verabschiedet, die Minister handlungsfähig – auch in einer Minderheitsregierung. Denn vollständig kann sich die SPD nicht vom Acker machen. Sie wird – um Neuwahlen zu verhindern – eine reine CDU/CSU-Bundesregierung tolerieren. Sprich: Die Christdemokraten und Christsozialen könnten der Republik zeigen, was CDU/CSU pur bedeutet. Denn auch die Union will keine Neuwahlen. CDU und CSU streiten mühsam um eine Spitzenkandidatur – die Personaldecke ist derzeit aber eher dünn.
Beide Noch-Koalitionspartner brauchen Zeit. Das Argument, Deutschland kenne und könne keine Minderheitsregierungen, ist falsch. In fundamentalen Fragen der deutschen Außen-, Europa- und ja auch in der Wirtschafts- und Umweltpolitik werden sich neue Mehrheiten finden lassen. Konstruktive Kräfte gibt es in allen demokratischen Parteien. Das Parlament würde wieder zum entscheidenden Nukleus der Politik. Debatte, Streit, klare Positionierungen helfen bei der Mehrheitsbeschaffung und bei der Orientierung der Bürger. Stillstand sieht anders aus. Mit ein bisschen Mut könnte Bundeskanzlerin Angela Merkel aus der Not eine Tugend machen.