Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Demokratie bedeutet viel Arbeit“
Maria Alyokhina von Pussy Riot erzählt, warum sie sich nach wie vor für ihre Heimat Russland einsetzt
FRIEDRICHSHAFEN - Die russische Protestgruppe Pussy Riot wurde 2012 weltweit bekannt, nachdem fünf ihrer Mitglieder in der Kathedrale von Moskau unangemeldet aufgetreten waren, um auf die Wahlkampfunterstützung der orthodoxen Kirche für Wladimir Putin aufmerksam zu machen. Die drei Mitglieder Nadezhda Tolokonnikova, Maria Alyokhina und Jekaterina Samutsevich wurden daraufhin wegen Rowdytums zu zwei Jahren Haft verurteilt. Samutsevich wurde nach wenigen Monaten auf Bewährung entlassen und ist nicht mehr Teil der Gruppe. Alyokhina tourt aktuell mit der Performance Act Riot Days durch Europa und wird am 4. Dezember im Kulturhaus Caserne in Friedrichshafen auftreten. Jan Scharpenberg hat sich im Vorfeld mit ihr unterhalten.
Sie haben Pussy Riot einmal als kompliziertes Projekt beschrieben. Was ist Pussy Riot?
Wir sind ein politisches Kunstkollektiv, das für Recht und Freiheit kämpft. Ganz am Anfang waren wir eine kleine Untergrundgruppe. Das hat sich geändert. Zusätzlich zu unseren Protestaktionen machen wir jetzt auch Musikvideos und digitale Projekte, die über Polizeigewalt und politisch motivierte Gerichtsverfahren informieren.
Wie ist die Wahl auf Friedrichshafen als Veranstaltungsort gefallen?
Wir haben die Riot Days schon mehrfach in deutschen Großstädten aufgeführt. Jetzt besuchen wir die kleineren Städte. Friedrichshafen ist deshalb für uns interessant, weil uns ein paar Studenten geschrieben und uns eingeladen haben. Wir werden also nicht nur auftreten, sondern auch lokale Aktivisten treffen.
Was passiert, wenn Sie sich mit Aktivisten treffen?
Wir tauschen Erfahrungen aus. Als wir Pussy Riot gegründet haben, wurden wir inspiriert von europäischen und amerikanischen Protestbewegungen. Deswegen wollen wir den Menschen jetzt unsere Geschichte erzählen. Damit sie sehen, dass sie nicht allein sind. Viele Menschen haben Angst vor dem Gefängnis. Dabei ist die Angst ein viel schlimmeres Gefängnis, als ein Gebäude mit Gittern und Wächtern.
Sie haben keine Angst mehr vor dem Gefängnis, obwohl Sie schon drin waren?
Nein, habe ich nicht.
Aber ich nehme an, dass die Haft in Russland für Sie eine sehr extreme Erfahrung war. Wie hat das ihre Sicht auf die Welt verändert?
Diese Zeit hat mir vor allem beigebracht, mich nicht selbst zu verlieren. Das System in Russland zielt darauf ab, dir deine Freiheit wegzunehmen, indem es deine Persönlichkeit auslöscht. Sie wollen, dass du nur Teil eines funktionierenden Mechanismus bist. Dass du die Regeln befolgst und den Mund hältst.
Putin und seine Politik sind hier weit weg vom Alltag der Menschen. Warum sollten sich diese für Ihre Arbeit interessieren?
Unsere Show geht nicht über Putin, sondern über Recht und Widerstand. Wir erzählen zwar die Geschichte von unserer Aktion in der Kirche bis zum letzten Tag im Gefängnis, aber diese Geschichte handelt davon, welche Entscheidungen wir getroffen haben. Es ist eine praktische Anleitung für Menschen, die etwas verändern möchten. Was in unserem Land passiert, kann überall passieren. Bestes Beispiel ist Polen, wo Ultrarechte die Macht bekommen haben.
Wird die Welt radikaler?
Die Popularität von ultrarechten Bewegungen in Europa wächst und das ist eine Reaktion der Gesellschaft auf die Migrationskrise und das Schweigen der Demokraten. Denn viele demokratische Politiker sprechen nicht über das, was passiert und wollen nicht wahrhaben, dass sich Europa verändert.
Werden Sie immer noch vom russischen Staat verfolgt?
Einen Tag, nachdem ich zu dieser Tour aufgebrochen bin, wurden Teilnehmer einer unserer Protestaktionen festgenommen. Ein paar davon waren Mitglieder von Pussy Riot.
Schützt Sie Ihre Berühmtheit vor Repressionen in Russland?
Für besagte Protestaktion musste ich 2000 Euro Strafe zahlen. Ich glaube aber, dass die Regierung nur Fotos von der Aktion hatte, die sie erst am nächsten Tag gesehen hat. Da war ich schon im Ausland. Nur deswegen bin ich nicht verhaftet worden.
Sie haben also keinen Vorteil?
Ich hoffe, dass ich einen gewissen Schutz habe. Der Fall des Oppositionspolitikers Boris Nemzow, der auch viel in den Medien präsent war und trotzdem in der Nähe der Kremlmauern erschossen wurde, zeigt allerdings, dass niemand zu 100 Prozent geschützt ist.
Das hört sich an, als führten Sie ein sehr gefährliches und stressiges Leben. Möchten Sie manchmal aufhören mit Ihrer Arbeit?
Nein das möchte ich nicht. Ich möchte auch nicht auswandern. Ich liebe mein Land und die Menschen, die darin leben. Ich möchte nicht, dass Russland von Dieben und Mördern aus dem Kreml repräsentiert wird. Wenn wir aufgeben und auswandern würden, hätten wir verloren.
Wann haben Sie aus Ihrer Sicht gewonnen?
Demokratie bedeutet viel Arbeit über Generationen hinweg. Wir als russische Gesellschaft haben noch einen weiten Weg vor uns. Viele Reformbewegungen, die es in Europa gab, hatten wir nicht. Es gab zum Beispiel keine Selbstreflexion nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn wir also wirklich eine Veränderung wollen, dann wird diese Arbeit ein ganzes Leben dauern.
Wird die wirtschaftliche Krise in Russland teilweise zur Veränderung beitragen?
Es ist sehr zynisch zu sagen, dass eine wirtschaftliche Krise bei irgendetwas helfen würde. Das kann sie nicht. Ich glaube an persönliche Veränderung und an die Revolution in jedem einzelnen Herzen.