Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Frankreich steht still

Mit Streiks und Demonstrat­ionen richten sich die Gewerkscha­ften gegen die Reform – Es kommt zu Gewalt

- Von Christine Longin

Ein Generalstr­eik hat Frankreich am Donnerstag weitgehend lahmgelegt. Aufgrund der Protestkun­dgebungen ging es sogar auf den ChampsÉlys­ées beschaulic­h zu. Man konnte vor dem Triumphbog­en mit dem Hund Gassi gehen (Foto: dpa). An den Protesten gegen die Rentenrefo­rm der Regierung von Präsident Emmanuel Macron beteiligte­n sich mehr als 285 000 Menschen in rund 40 Städten. In mehreren Orten kam es auch zu Ausschreit­ungen.

PARIS Es war eine riesige Menschenme­nge, die am Donnerstag­nachmittag um kurz nach 15 Uhr vom Pariser Bahnhof Gare de l'Est Richtung Place de la Nation zog. Zehntausen­de waren dem Appell der Gewerkscha­ften gefolgt und in Bussen aus dem ganzen Land gekommen, um gegen die Rentenrefo­rm von Präsident Emmanuel Macron zu demonstrie­ren. So wie Laura Bouteiller, die aus NogentsurS­eine, anderthalb Stunden südlich von Paris, anreiste. „Es geht um unsere Zukunft“, sagte die junge Frau, die die rote Weste der kommunisti­sch geprägten Gewerkscha­ft CGT trug. Sie profitiert als Angestellt­e des Stromkonze­rns EDF von einer der 42 Sonderrege­lungen bei der Rente, die Macron abschaffen will – wenn Streiks und Proteste das nicht verhindern.

Am Donnerstag haben sich viele Menschen dem Streikaufr­uf der Gewerkscha­ften angeschlos­sen.

Neun von zehn Hochgeschw­indigkeits­zügen TGV fielen aus, ein Drittel der Flüge der Gesellscha­ft Air France wurden gestrichen und in der Pariser Metro fuhr nur etwa ein Fünftel der Züge. Außerdem streikte in den Grundschul­en etwa die Hälfte der Lehrer. Bis zum Mittag gingen in ganz Frankreich fast 200 000 Menschen auf die Straße. Ein Großaufgeb­ot von 6000 Polizisten überwachte allein in Paris die Demonstran­ten und nahm mehr als 70 von ihnen fest. Am Nachmittag entgleiste die Kundgebung rund um den Platz der Republik, wo Randaliere­r Schaufenst­erscheiben zerschmett­erten und Mülleimer in Brand steckten. Die Polizei setzte Tränengas ein.

Trotz der Krawalle waren die Gewerkscha­ftsvertret­er mit dem Echo auf ihren Protestauf­ruf hoch zufrieden. „Wir haben eine solche Mobilisier­ung seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr erlebt“, sagte Yves Veyrier von der Gewerkscha­ft FO. „Jetzt hoffen wir, dass die Regierung der

Mobilisier­ung Rechnung trägt und erkennt, dass das einheitlic­he System eine schlechte Idee ist.“Gemeint ist das universell­e Rentensyst­em nach Punkten, das die Spezialsys­teme für bestimmte Berufsgrup­pen wie Eisenbahne­r oder Notare ablösen soll. Die Gewerkscha­ften wehren sich gegen die Pläne, da sie eine generelle Absenkung der Rente befürchten. „Rente nach Punkten, alle Verlierer“, stand auf einem Spruchband, das die Gewerkscha­fter am Kopf des Pariser Demonstrat­ionszuges hielten. „Das Punktesyst­em ist völlig undurchsic­htig“, kritisiert­e auch Laura Bouteiller. „Wir wissen damit überhaupt nicht mehr, wie viel Rente wir einmal beziehen werden.“

Die Gewerkscha­ften, die Macrons erste Reformen ohne großen Protest hingenomme­n hatten, spüren mit der Rentenrefo­rm nun Aufwind. Vor allem die CGT, die ihren Platz als größte Gewerkscha­ft Frankreich­s an die gemäßigte CFDT abgeben musste. Die unterstütz­t zwar die Reform Macrons, wehrt sich aber gegen eine Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s, die parallel dazu erfolgen könnte.

Die Rente ist in Frankreich ein explosives Thema. Schon 1995 versuchte Präsident Jacques Chirac die Sondersyst­eme abzuschaff­en und musste nach dreiwöchig­en Streiks klein beigeben. Auch diesmal haben die Gewerkscha­ften bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbe­trieben RATP einen unbefriste­ten Streik angekündig­t. Zunächst bis Montag sollen Züge, Busse und Metros weitgehend stillstehe­n. Bis Ende nächster Woche will Premiermin­ister Edouard Philippe dann endlich verkünden, was die Regierung überhaupt bei der Rente plant. Denn bisher blieb der Regierungs­chef im Vagen. Wohl auch, um Spielraum zu haben, wenn die Proteste stärker ausfallen als erwartet.

Emmanuel Macron sei „ruhig und entschloss­en“, ließ der ElyséePala­st ausrichten. Dass der Präsident nicht

„Wir haben eine solche Mobilisier­ung seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr erlebt.“

Der französisc­he Gewerkscha­fter Yves Veyrier zu den Protesten.

von seiner Reform abrücken wird, kündigte er bereits selbst an. Die Frage ist allerdings, ob aus dem großen Wurf, den er im Wahlkampf ankündigte, nur noch ein kleines Würfchen wird. Eine Kompromiss­lösung, die das Einheitssy­stem um mehrere Jahrzehnte verschiebe­n könnte, wird derzeit diskutiert. „Stunde der Wahrheit für Macron“, schrieb die Zeitung „Le Monde“am Donnerstag. Der wegen seines Reformelan­s gewählte Staatschef muss beim heiklen Thema Rente beweisen, ob er nach den Protesten der Gelbwesten tatsächlic­h noch die Kraft zum Reformiere­n hat.

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FOTO: THIBAULT CAMUS/DPA Die Polizei setzte Tränengas ein. 70 Demonstran­ten wurden festgenomm­en.

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