Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Frankreich steht still
Mit Streiks und Demonstrationen richten sich die Gewerkschaften gegen die Reform – Es kommt zu Gewalt
Ein Generalstreik hat Frankreich am Donnerstag weitgehend lahmgelegt. Aufgrund der Protestkundgebungen ging es sogar auf den ChampsÉlysées beschaulich zu. Man konnte vor dem Triumphbogen mit dem Hund Gassi gehen (Foto: dpa). An den Protesten gegen die Rentenreform der Regierung von Präsident Emmanuel Macron beteiligten sich mehr als 285 000 Menschen in rund 40 Städten. In mehreren Orten kam es auch zu Ausschreitungen.
PARIS Es war eine riesige Menschenmenge, die am Donnerstagnachmittag um kurz nach 15 Uhr vom Pariser Bahnhof Gare de l'Est Richtung Place de la Nation zog. Zehntausende waren dem Appell der Gewerkschaften gefolgt und in Bussen aus dem ganzen Land gekommen, um gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron zu demonstrieren. So wie Laura Bouteiller, die aus NogentsurSeine, anderthalb Stunden südlich von Paris, anreiste. „Es geht um unsere Zukunft“, sagte die junge Frau, die die rote Weste der kommunistisch geprägten Gewerkschaft CGT trug. Sie profitiert als Angestellte des Stromkonzerns EDF von einer der 42 Sonderregelungen bei der Rente, die Macron abschaffen will – wenn Streiks und Proteste das nicht verhindern.
Am Donnerstag haben sich viele Menschen dem Streikaufruf der Gewerkschaften angeschlossen.
Neun von zehn Hochgeschwindigkeitszügen TGV fielen aus, ein Drittel der Flüge der Gesellschaft Air France wurden gestrichen und in der Pariser Metro fuhr nur etwa ein Fünftel der Züge. Außerdem streikte in den Grundschulen etwa die Hälfte der Lehrer. Bis zum Mittag gingen in ganz Frankreich fast 200 000 Menschen auf die Straße. Ein Großaufgebot von 6000 Polizisten überwachte allein in Paris die Demonstranten und nahm mehr als 70 von ihnen fest. Am Nachmittag entgleiste die Kundgebung rund um den Platz der Republik, wo Randalierer Schaufensterscheiben zerschmetterten und Mülleimer in Brand steckten. Die Polizei setzte Tränengas ein.
Trotz der Krawalle waren die Gewerkschaftsvertreter mit dem Echo auf ihren Protestaufruf hoch zufrieden. „Wir haben eine solche Mobilisierung seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr erlebt“, sagte Yves Veyrier von der Gewerkschaft FO. „Jetzt hoffen wir, dass die Regierung der
Mobilisierung Rechnung trägt und erkennt, dass das einheitliche System eine schlechte Idee ist.“Gemeint ist das universelle Rentensystem nach Punkten, das die Spezialsysteme für bestimmte Berufsgruppen wie Eisenbahner oder Notare ablösen soll. Die Gewerkschaften wehren sich gegen die Pläne, da sie eine generelle Absenkung der Rente befürchten. „Rente nach Punkten, alle Verlierer“, stand auf einem Spruchband, das die Gewerkschafter am Kopf des Pariser Demonstrationszuges hielten. „Das Punktesystem ist völlig undurchsichtig“, kritisierte auch Laura Bouteiller. „Wir wissen damit überhaupt nicht mehr, wie viel Rente wir einmal beziehen werden.“
Die Gewerkschaften, die Macrons erste Reformen ohne großen Protest hingenommen hatten, spüren mit der Rentenreform nun Aufwind. Vor allem die CGT, die ihren Platz als größte Gewerkschaft Frankreichs an die gemäßigte CFDT abgeben musste. Die unterstützt zwar die Reform Macrons, wehrt sich aber gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, die parallel dazu erfolgen könnte.
Die Rente ist in Frankreich ein explosives Thema. Schon 1995 versuchte Präsident Jacques Chirac die Sondersysteme abzuschaffen und musste nach dreiwöchigen Streiks klein beigeben. Auch diesmal haben die Gewerkschaften bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben RATP einen unbefristeten Streik angekündigt. Zunächst bis Montag sollen Züge, Busse und Metros weitgehend stillstehen. Bis Ende nächster Woche will Premierminister Edouard Philippe dann endlich verkünden, was die Regierung überhaupt bei der Rente plant. Denn bisher blieb der Regierungschef im Vagen. Wohl auch, um Spielraum zu haben, wenn die Proteste stärker ausfallen als erwartet.
Emmanuel Macron sei „ruhig und entschlossen“, ließ der ElyséePalast ausrichten. Dass der Präsident nicht
„Wir haben eine solche Mobilisierung seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr erlebt.“
Der französische Gewerkschafter Yves Veyrier zu den Protesten.
von seiner Reform abrücken wird, kündigte er bereits selbst an. Die Frage ist allerdings, ob aus dem großen Wurf, den er im Wahlkampf ankündigte, nur noch ein kleines Würfchen wird. Eine Kompromisslösung, die das Einheitssystem um mehrere Jahrzehnte verschieben könnte, wird derzeit diskutiert. „Stunde der Wahrheit für Macron“, schrieb die Zeitung „Le Monde“am Donnerstag. Der wegen seines Reformelans gewählte Staatschef muss beim heiklen Thema Rente beweisen, ob er nach den Protesten der Gelbwesten tatsächlich noch die Kraft zum Reformieren hat.