Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Tausende sterben an Masern
UN warnen vor Ausbreitung der Infektionskrankheit
GENF (epd) In Deutschland wurde lange über die MasernImpfpflicht gestritten. Ein Blick über den Tellerrand hinaus macht deutlich, wie groß das Problem ist: Am Donnerstag haben die Vereinten Nationen vor einer weltweiten Ausbreitung der lebensgefährlichen Masern gewarnt. 2018 seien etwa 140 000 Menschen an den Folgen der hochansteckenden Infektionskrankheit gestorben, die meisten von ihnen Kinder unter fünf Jahren, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Kinderhilfswerk Unicef mitteilten. Offiziell gemeldet worden seien 2018 etwa 353 000 MasernErkrankungen, 2019 seien es bis Mitte November schon mehr als 440 000. Die geschätzte Zahl der Fälle ist aber viel höher, 2018 lag sie bei etwa zehn Millionen.
„Die Sterblichkeit ist bei Kindern unter fünf Jahren am höchsten“, sagt Marcus Bachmann von der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“der „Schwäbischen Zeitung“.
RAVENSBURG Die Masern breiten sich derzeit weltweit wieder aus. Das geht aus Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hervor. Die Epidemien könnten verhindert werden, erklärt Marcus Bachmann von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Gespräch mit Kristina Staab. Kinder unter fünf Jahren sterben demnach am häufigsten an der Infektionskrankheit.
In Deutschland ist die Impfpflicht nach langer Diskussion beschlossen worden. Was müsste passieren, um global für mehr Impfschutz zu sorgen?
Wie wir in unseren Einsätzen beobachten, ist die größte Hürde der Zugang der Bevölkerung zur Impfung. Um diesen zu verbessern, müsste das Gesundheitssystem in den betroffenen Ländern gestärkt werden: zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo, Madagaskar, dem Südsudan oder Äthiopien. Als Einsatzleiter während der EbolaEpidemie 2019 im OstKongo habe ich oft mit Betroffenen zusammengesessen und sie gefragt, was sie sich wünschen. Ihr Behandlungswunsch Nummer Eins war die MasernImpfung. Denn die Krankheit ist bekannt, auch dafür, dass die Sterblichkeit bei Kinder unter fünf Jahren am höchsten ist.
Liegt das nur daran, dass Kinder prinzipiell empfindlicher sind als Erwachsene?
Nein, dazu kommt der Kontext, in dem sie aufwachsen. Zum Beispiel, wenn die Kinder mangelernährt sind, wissen wir, dass die Empfänglichkeit für eine Maserninfektion wie auch das Risiko viel größer sind.
Müssen diejenigen, die die Krankheit überstehen, mit Spätfolgen rechnen?
Es ist viel wahrscheinlicher, dass die Kinder an akuter Mangelernährung erkranken. Auch daran können sie sterben. Das Immunsystem der Kinder wird in seiner Reaktionsfähigkeit und in seinem Erinnerungsvermögen beeinträchtigt. Das heißt, Keime werden weniger vehement bekämpft.
Die Weltgesundheitsorganisation hat am Mittwoch die Zahl der Masernfälle weltweit veröffentlicht. Sie dehnen sich demnach weiter aus. Wie würden Sie die Zahlen kommentieren?
Das ist eine fundierte Modellrechnung mit einer hohen Zuverlässigkeit. Sie zeigt, dass die Zahl der Masernerkrankungen zunimmt. Die Masernepidemien werden zu groß. Das liegt an Lücken in Überwachungssystemen. Die größte Massenepidemie gibt es mit 250 000 Fällen in der Demokratischen Republik Kongo. Dort liegt die Mortalität bei zwei Prozent, was für die Masern ein sehr hoher Wert ist. Mehr als 5100 Menschen sind im Land an der Krankheit gestorben.
Was muss geschehen, um Masernepidemien zu verhindern?
Um die Bevölkerung zu schützen, braucht man eine sehr hohe Impfungsrate. Sie muss bei mehr als 95 Prozent liegen.
Wie teuer ist der Impfstoff gegen Masern?
Die Dosis für eine Impfung ist vergleichsweise günstig. Mit 25 Euro können wir zum Beispiel den Impfstoff kaufen, um 100 Kinder gegen
Masern zu immunisieren.
Wenn es in einem Land keine Impfmöglichkeit gibt, kann man sich trotzdem schützen?
Die Masern sind eine hochansteckende Krankheit. Die einzige Möglichkeit ist, Verdachtsfälle zu isolieren. Dass Eltern ihre kleinen Kinder isolieren, wenn sie einen Verdacht haben, ist in der Lebensrealität in unseren Einsatzländern nicht umsetzbar. Das Kind muss möglichst schnell in eine medizinische Einrichtung, das ist wichtig, um die Ausbreitung zu stoppen, wie auch für die Behandlung. In Konfliktgebieten ist das wegen der Gefahren auf dem Weg zum nächsten Krankenhaus oft nicht möglich.
Gehören die Masern zu den Krankheiten, die immer noch unterschätzt werden, auch im Hinblick auf die Zahl der tödlichen Ausgänge?
An Masern sterben viele Menschen, es ist eine ernste Krankheit. Das Dramatische ist, dass es einen wirksamen Impfstoff gibt, der günstig ist. Man könnte also durch Impfungen sehr viele Erkrankungen vermeiden und Leben retten. Wenn wir Masernepidemien auch auf Madagaskar, im Südsudan und in Äthiopien betrachten, dann sehen wir, dass prinzipiell viel größere Anstrengungen getroffen werden müssten, um das Gesundheitssystem zu stärken.
Welche Probleme haben Sie bei Ihrem Einsatz noch als besonders schwerwiegend erlebt?
Seit dem Frühjahr 2019 gibt es im Ostkongo fünf humanitäre Krisen zur gleichen Zeit, darunter die EbolaEpidemien in Ituri und NordKivu. Gleichzeitig sind 700 000 Menschen von Vertreibung und Flucht betroffen. Gerade in Flüchtlingslagern breiten sich durch engen Raum und dürftige Lebensbedingungen Krankheiten schnell aus, ohne Mückennetze beispielsweise Malaria. In den ersten neun Monaten der Krise in der Demokratischen Republik Kongo haben Regierungen 460 Millionen Dollar für die Bekämpfung von Ebola, aber nur acht Millionen USDollar für die Masernbekämpfung bereitgestellt.
Warum entscheiden Regierungen Ihrer Meinung nach auf diese Art?
Für viele Infektionskrankheiten gehen die Unterstützungen zurück, da humanitäre Mittel umgelenkt werden. Und zwar häufig dahin, Migration nach Europa zu unterbinden. Da das die gleichen Budgetlinien sind, kommt es möglicherweise zu einer missbräuchlichen Verwendung von humanitären Geldern. Der Mitteleinsatz wird außerdem sehr stark davon gelenkt, als wie bedrohlich eine Epidemie wahrgenommen wird. Masern erreicht bei Weitem nicht die Aufmerksamkeit einer EbolaEpidemie. Für viele Krankheiten müsste mehr Forschung betrieben werden, da es keine adäquaten Medikamente gibt. Bei Ebola hat die Entwicklung von Impfungen ausnahmsweise gut und schnell funktioniert, nachdem es die ersten importierten EbolaFälle nach Europa gegeben hatte.