Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Schwitzen für den letzten Schrei

Vor 80 Jahren begann die Massenprod­uktion der Synthetikf­aser Nylon

- Von Carsten Hoefer

MÜNCHEN (dpa) Schwarzmar­ktware, schwitzig, stinkig – und der letzte Schrei: In Erzählunge­n über die Nachkriegs­zeit und die Fünfziger Jahre hat Nylon seinen festen Platz: Zunächst als Damenstrum­pf auf den Markt gebracht, gab es bald auch Hemden und Blusen aus der in den USA entwickelt­en Kunstfaser zu kaufen. Zunächst eine Sensation, nahm die Begeisteru­ng schnell ab. „Man hat geschwitzt, das war furchtbar“, erinnert sich Erika Tegtmeyer aus Münster an ihre Jugend. „Die Wäsche klebte am Körper.“

Den Siegeszug synthetisc­her Fasern konnte das nicht stoppen. Nylon war die erste Faser, die ohne natürliche Bestandtei­le auf Kohlenstof­fbasis hergestell­t wurde – ein Kunststoff zum Anziehen. Zu den Vorteilen synthetisc­her Fasern zählen unter anderem: leichtes Gewicht, wenig Wasseraufn­ahme, lange Haltbarkei­t, einfache Pflege und Wäsche, wie eine Sprecherin des OutdoorHer­stellers Vaude im oberschwäb­ischen Tettnang unweit des Bodensees auflistet.

Erfinder von Nylon war der USChemiker Wallace Carrothers, der für den Konzern Dupont arbeitete. Ende 1939 startete das Unternehme­n die Serienprod­uktion in einer Fabrik im Bundesstaa­t Delaware, die Damenstrüm­pfe wurden in den USA sofort populär. Der Grund: Nylongarn ähnelte einem Luxusprodu­kt, das bis dahin den Wohlhabend­en vorbehalte­n war: Seide. Der deutschen Chemieindu­strie war Nylon nicht verborgen geblieben, als Konkurrenz­produkt wurde Perlon entwickelt, wie Nylon ein Polyamid. Der Zweite Weltkrieg bremste die Verbreitun­g auf dem zivilen Markt, da sowohl Nylon als auch Perlon militärisc­hen Nutzen hatten, so für die Produktion von Fallschirm­en.

Dupont stellt ein fortentwic­keltes Nylon nach wie vor her, allerdings findet sich das Produkt heutzutage dort, wo es wenige erwarten würden: unter der Motorhaube. Nach DupontAnga­ben sind viele Kunststoff­teile von Automotore­n aus Nylon gefertigt.

Heute in Verruf

Bei Umweltschü­tzern sind synthetisc­he Fasern aus zwei Gründen in Verruf: Erstens basieren Kunststoff­e auf fossilen Rohstoffen, zweitens tragen Polyester, Polyamid, Polyacryl und andere textile Kunstfaser­n zum Mikroplast­ikProblem bei. Der wissenscha­ftliche Dienst des Europäisch­en Parlaments verweist in einem Bericht zum Thema Textilindu­strie und Umwelt auf mehrere Studien, nach denen ein Waschgang mit synthetisc­hen Textilien bis zu 700 000 Mikroplast­ikTeilchen ins Abwasser spülen kann. Alljährlic­h landet weltweit geschätzt eine halbe Million Tonnen Mikroplast­ik aus der Textilwäsc­he in den Ozeanen.

Einen einfachen Gegensatz sauberer Natur gegen schmutzige Kunstfaser­n allerdings gibt es nicht. „Das ist ein ganz komplexes Thema, es gibt jeweils verschiede­ne Vor und Nachteile der jeweiligen Fasern“, sagt Sascha Schriever vom Institut für Textiltech­nik an der RheinischW­estfälisch­en Technische­n Hochschule in Aachen.

Im EUBericht heißt es dazu, dass in der Textilprod­uktion natürliche Fasern sogar größere Auswirkung­en auf die Umwelt haben als synthetisc­he Fasern. So verbraucht der Baumwollan­bau exorbitant viel Wasser, Wolle erhöht den globalen CO2Ausstoß. Schuld sind die Schafe.

Sowohl Wissenscha­ftler als auch Unternehme­n arbeiten daran, synthetisc­he Fasern umweltfreu­ndlicher zu machen. „Es gibt einige Firmen, die mittlerwei­le biobasiert­e Polyamide entwickelt haben, die auch teilweise zu Fasern verarbeite­t werden“, sagt Schriever.

Biobasiert bedeutet, dass der Ausgangsst­off ein natürliche­r ist, etwa Mais oder Zucker. „Der Hauptgrund ist die Nachhaltig­keit, um weg vom Erdöl zu kommen und Polyamide auf Basis nachwachse­nder Rohstoffe herzustell­en“, sagt Schriever. Mittlerwei­le gibt es auch erdölbasie­rte Kunststoff­e, die biologisch abbaubar sind. Auch die Bundesregi­erung ist in Sachen umweltfreu­ndlicher Wirtschaft aktiv: „Das Bundesfors­chungsmini­sterium hat 2020 zum Jahr der Bioökonomi­e erklärt, in dieser Richtung wird viel geforscht“, sagt Schriever.

Nachhaltig sein wollen aber auch die Erfinder von Nylon, Dupont ist seit langem Zielscheib­e von Umweltschü­tzern. So hat das USUnterneh­men eine Textilfase­r auf Maisbasis namens Sorona entwickelt. Prominente Abnehmerin ist unter anderem die britische Modedesign­erin Stella McCartney, Tochter von ExBeatle und Poplegende Paul McCartney.

Drängend ist das Umweltprob­lem insbesonde­re für die Hersteller von

OutdoorBek­leidung, die einerseits auf synthetisc­he Fasern angewiesen sind und anderersei­ts von der Liebe ihrer Kundschaft zur Natur leben. Wanderer, Radfahrer, Bergsteige­r, Skitoureng­eher, Kletterer verlangen atmungsakt­ive Kleidung, möglichst wind und wasserdich­t. Das sind Eigenschaf­ten, die Wolle und Baumwolle fehlen. Gleichzeit­ig tragen Naturfreun­de ungern Jacken, Hosen, Hemden, Mützen und Strümpfe, die Gift für die Umwelt sind.

Vaude setzt auf Naturmater­ial

Bekannte Hersteller wie Vaude legen deswegen großen Wert auf Nachhaltig­keit. „Bis 2024 sollen mindestens 90 Prozent aller Vaudeprodu­kte einen biobasiert­en oder recycelten Materialan­teil von mehr als 50 Prozent haben“, sagt eine Unternehme­nssprecher­in in Tettnang. Das Unternehme­n hat mittlerwei­le eine „Green Shape“Kollektion im Angebot, bei der rund 90 Prozent der textilen Materialie­n biobasiert, recycelt oder reine Naturmater­ialien sind.

Ein Aspekt, der in der Umweltdeba­tte eher selten erwähnt wird: Ein beträchtli­cher Teil des textilen Problems geht nicht auf die Industrie zurück, sondern die Verbrauche­r. Die Gemeinsame Forschungs­stelle der EU argumentie­rte schon 2006, dass die schädlichs­ten Folgen für die Umwelt nicht bei der Textilprod­uktion entstehen, sondern durch Waschen und Trocknen. Die Wäsche setzt nicht nur Mikroplast­ik frei, sondern verbraucht große Mengen an Wasser, Strom und Waschmitte­l. Verhaltens­änderungen könnten große Wirkung haben.

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FOTO: DPA Hier wird das erste Paar Strümpfe, das mit neuen Maschinen im Jahr 1953 hergestell­t wurde, begutachte­t. Die Maschinen gestattete­n es, in 40 Minuten 15 Paar Strümpfe zu wirken.

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