Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Mexikos Hoffnungsträger ist hart gelandet
Vor einem Jahr wurde Manuel López Obrador Präsident und sorgte für Aufbruchsstimmung – doch das Land kommt nicht aus der Krise
MEXIKOSTADT Seit einem Jahr beginnen die Wochentage des mexikanischen Präsidenten immer gleich. Morgens um sieben Uhr lädt er die Hauptstadtpresse in den Nationalpalast im Herzen von MexikoStadt zu einer Konferenz, in der er meist bestens informiert und gerne belehrend die Themen des Tages vorgibt. Da Andrés Manuel López Obrador in seinem ersten Jahr im Amt nicht ein einziges Mal ins Ausland gereist ist, fielen die Konferenzen nie aus. Auslandsreisen hält der Staatschef für vertane Zeit. Um die internationalen Beziehungen und die großen Gipfel kümmert sich Außenminister Marcelo Ebrard. Gerade erst war es Ebrard, der die Entscheidung der USA, die mexikanische Kartelle auf die USTerrorliste zu setzen, als Verletzung der nationalen Souveränität bezeichnete. Seinen ersten internationalen Besuch plant López Obrador, kurz AMLO, für den 14. Januar. Da geht es zum Nachbarn Guatemala, wenn der künftige Präsident Alejandro Giammattei sein Amt antritt.
In seinem ersten von sechs Amtsjahren, das er am Sonntag beschließt, hat der Linkspräsident viel verändert im zweitgrößten Land Lateinamerikas. Kritiker sagen aber, es seien vor allem Routinen – wie die, mit dem exzessiven Reisen seiner Vorgänger zu brechen, die oft wie VizeKönige mit Hofstaat lange Trips in die weite Welt unternahmen. López Obrador, der Innenpolitik für die bessere Außenpolitik hält, hingegen hat nicht nur sich die Reisen verkniffen, sondern auch seiner Ministerialbürokratie Gehälter, Reisen, Spesen und Privilegien gestrichen. Pfennigfuchserei statt Verschwendungssucht ist jetzt angesagt.
Eine der unerquicklichen Nebenfolgen: ein Gutteil der fähigen Beamten hat den Staatsdienst quittiert. Und so klagt vor allem die Wirtschaft darüber, dass Behördenanfragen und Genehmigungen viel länger dauern als früher.
Startete López Obrador mit vielen Vorschusslorbeeren und Kredit in der Bevölkerung, hat die Kritik in den vergangenen Wochen zugenommen. Zu selbstherrlich und autokratisch sei er in vielen seiner Entscheidungen, herabwürdigend gegen Kritiker und zu wenig einfühlsam gegenüber den Opfern der Gewalt im Land. „Die Schatten werden deutlich länger“, sagt zum Beispiel Santiago Aguirre, Direktor des Menschrechtszentrums PRO in MexikoStadt. Es habe vielversprechend angefangen, unterstreicht Aguirre im Gespräch. Aber der Umgang mit den zentralamerikanischen Migranten, das offensichtliche Scheitern seines Konzepts gegen die Kartelle, das Fehlen einer Justizreform und die Beschränkung der Autonomie bisher unabhängiger Organisationen wie der Nationalen Menschenrechtskommission seien bedenklich. Auch Amnesty International stellte dem Staatschef erst kürzlich ein schlechtes Zeugnis für seine Menschenrechtsbilanz aus.
Vor allem bei den Themen Gewaltprävention und Wirtschaftswachstum ist López Obrador die Einlösung seiner großen Versprechen schuldig geblieben. Der Präsident wollte weg von der Frontstellung gegen die Kartelle und das Problem vor allem dadurch entschärfen, dass er jungen Menschen mehr Chancen gibt und gleichzeitig Mitläufern der bewaffneten Gruppen eine Amnestie in Aussicht stellt.
Zudem wird eine neue Streitmacht aufgebaut. Die sogenannte
Nationalgarde soll die Bundespolizei ablösen und den Schutz der Bevölkerung übernehmen. Aber zum einen ist die 60 000MannGarde noch im Aufbau begriffen, zum anderen wird sie gerade auf Druck der USA vor allem gegen Migranten an der Nordund Südgrenze Mexikos eingesetzt. Und so geht auch unter López Obrador das Töten ungebremst weiter. Ende des Jahres werden vermutlich 34 000 bis 35 000 Mordopfer zu beklagen sein. Das wäre ein historisch hoher Blutzoll. Dabei hatte der Staatschef versichert, die Zahl der Morde würde bereits nach sechs Monatenseiner Amtszeit zurückgehen.
Rezession statt Aufschwung
Zuletzt fiel die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas gerade in eine Rezession, dabei hatte AMLO bei Amtsantritt ein Wachstum von vier Prozent pro Jahr versprochen. Die Enttäuschungen schlagen sich inzwischen auch in den Umfragen nieder. AMLOs Zustimmungswerte sanken von 80 auf 60 Prozent – was aber noch immer beachtlich hoch ist. „Der innige Wunsch der Bevölkerung nach Veränderung und Verbesserung schützt den Präsidenten noch ein Stück weit“, vermutet Menschenrechtler Aguirre.
Dabei weist der 66jährige AMLO Kritik an seiner Politik zunehmend arrogant zurück und wirft Journalisten, internationalen Ratingagenturen und Experten wahlweise Unfähigkeit oder Defätismus vor. Mexiko sei auf einem guten Weg, wiederholt AMLO immer wieder. „Aber auf lange Sicht gibt es kein Narrativ, das wirtschaftliche Stagnation und galoppierende Gewalt verdecken und rechtfertigen kann“, fasst der Analyst Jorge Zepeda Patterson sein Urteil zusammen.