Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
19, schwanger, obdachlos
Es fehlt Wohnraum, um Obdachlose und Geflüchtete unterzubringen.
Von Jens Lindenmüller
GFRIEDRICHSHAFEN - Die Stadt hat ein handfestes Problem. Sie ist verpflichtet, Obdachlosen und Geflüchteten Wohnraum zur Verfügung zu stellen, hat aber nicht mehr genug, um diese Verpflichtung zu 100 Prozent erfüllen zu können – obwohl sie für diesen Zweck auf Wohnungen der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft (SWG) zurückgreifen kann. Wie prekär die Lage ist, zeigt das Beispiel einer jungen Frau – 19 Jahre, hochschwanger, obdachlos.
„Ich habe keine Ahnung, wo ich hin soll“, sagt Lucie M. (Name von der Redaktion geändert) mit leerem Blick. Die Geschichte ihres erst 19 Jahre zählenden Lebens ist kompliziert. Wie und wo sie den nächsten Lebensabschnitt verbringen wird, ist derzeit völlig offen. Fest steht nur: Sie wird dabei nicht allein sein, denn sie erwartet Ende Februar ein Kind. Eine Wohnung hat sie nicht – und momentan auch keine Unterstützung vom werdenden Vater, weil dieser wegen verschiedener Delikte wie Diebstahl und Körperverletzung in Haft sitzt.
Im Juni 2018 verliebt sich Lucie M. in den jungen Mann, der mit seinen Eltern und drei Schwestern nach der Flucht aus Syrien am Bodensee gelandet war. Offiziell lebt sie noch in einer Pflegefamilie in Überlingen, tatsächlich verbringt sie aber immer mehr Zeit bei ihrem Freund und dessen Familie, die in einer Gemeinde im Bodenseekreis eine Wohnung für Geflüchtete zugeteilt bekommen hat. Im März 2019 packt Lucie M. die Koffer und zieht ganz dorthin. Das Betreuungsverhältnis zwischen ihr und ihrer Pflegefamilie wird in beiderseitigem Einvernehmen beendet. „Ich war naiv“, räumt Lucie M. ein. Überhaupt wirkt die junge Frau sehr aufgeräumt und durchaus selbstkritisch, wenn sie davon erzählt, wie sie ab dem fünften Lebensjahr bei Verwandten und später dann in immer wieder wechselnden Heimen aufgewachsen ist. „In der Pubertät war ich schon sehr anstrengend“, sagt sie. Den Realschulabschluss schafft sie dennoch.
Bei der Wohnungssuche hilft ihr dieser allerdings nichts. „Ich habe Angebote durchsucht, selber Inserate aufgegeben und bei verschiedenen Stellen um Hilfe gebeten. Aber es gibt einfach nichts, was ich bezahlen könnte“, sagt die junge Frau, die seit September Arbeitslosengeld II bezieht. Bei der Familie ihres Freundes würde sie auch nach dessen Verhaftung gerne bleiben, darf dies aber nicht, weil es sich um eine Wohnung für Geflüchtete handelt und eine Untervermietung nicht gestattet ist. Weshalb Lucie M. in der fraglichen Gemeinde auch nicht offiziell angemeldet ist. Auf ihrem Ausweis klebt ein Aufkleber der Stadt Friedrichshafen. Die kann ihr aktuell aber auch keine dauerhafte Bleibe anbieten – lediglich vorübergehend ein Zimmer in der Herberge für Obdachlose. Die junge Frau schaut es sich zwar an, zögert aber mit einer Zusage. Die Frage nach dem Warum ist ihr sichtlich unangenehm. Man spürt, dass sie über die dort untergebrachten Männer nicht urteilen mag, doch es ist offensichtlich, dass sie Angst hat.
Unterstützung beim Ordnen ihrer Lebensumstände erhält Lucie M. seit etwa zwei Monaten von Dagmar Neuburger von der evangelischen
Diakonischen Bezirksstelle – im Zuge der Schwangerenberatung. Eigentlich sollten da ganz andere Dinge im Mittelpunkt stehen, etwa das Beschaffen einer Erstausstattung für einen Säugling. Doch was nützt ein Babybett ohne Wohnraum, in dem man es aufstellen kann? Die Herberge wäre spätestens dann, wenn der Nachwuchs da ist, ohnehin keine Alternative mehr. „Babys dürfen dort nicht bleiben“, erklärt Dagmar Neuburger. Frauenhäuser wiederum sind Opfern von Gewalt vorbehalten – auch dazu zählt Lucie M. nicht. Und Einrichtungen speziell für sehr junge werdende Mütter gibt es laut Dagmar Neuburger im ganzen Bodenseekreis nicht.
Der Fall von Lucie M. zeigt, wie sehr sich das Problem in den vergangenen Jahren zugespitzt hat. Die Zahl der Menschen, die allein die Stadt Friedrichshafen unterbringen muss, ist seit 2016 sprunghaft angestiegen – was natürlich in erster Linie auf die hohe Zahl an Menschen zurückzuführen ist, die seit 2015 durch Flucht aus ihren Heimatländern an den Bodensee gekommen sind. Waren im Jahr 2016 insgesamt 200 Obdachlose und 480 Geflüchtete von der Stadt unterzubringen, sind es aktuell 203 Obdachlose und 675 Geflüchtete (Stand November). Vor drei Jahren nutzte die Stadt drei Gemeinschaftsunterkünfte und 57 angemietete Wohnungen, zwischenzeitlich sind es vier Gemeinschaftsunterkünfte (Keplerstraße 7, Ittenhauser Straße 7, Wachirweg 20, Paulinenstraße 35) und rund 150 von der SWG angemietete Wohnungen.
Und selbst die reichen nicht mehr aus. „Es ist eine große Herausforderung, die zugeteilten Flüchtlinge und die in Friedrichshafen lebenden Obdachlosen unterzubringen. Derzeit können wir unsere Aufnahmequote nicht voll erfüllen“, heißt es auf Anfrage aus dem Rathaus. Eine Entspannung
der Situation erwartet man dort erst mal nicht. „Auch in den kommenden Jahren werden uns Flüchtlinge zugewiesen werden, so dass gegebenenfalls zusätzlicher Bedarf entsteht. In welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt ist allerdings derzeit nicht abzuschätzen“, teilt die Stadtverwaltung mit. Ein weiter ansteigender Bedarf könne derzeit nicht abgedeckt werden, weshalb die Stadt es auch abgelehnt habe, über die zugeteilte Quote hinaus freiwillig weitere Flüchtlinge aufzunehmen.
Wann und wie sie das Problem angehen will, behält die Stadtverwaltung erst mal für sich. „Die Planung, wie die Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen und Obdachlosen in Friedrichshafen erhöht werden können, wird gerade verwaltungsintern abgestimmt und dann dem Gemeinderat zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt“, heißt es aus dem Rathaus. Hilfe erhofft man sich dort auf jeden Fall auch von Bürgern, die über leer stehende Wohnungen verfügen.
So ruft Oberbürgermeister Andreas Brand in einer Pressemitteilung dazu auf, solche Wohnungen der Stadtverwaltung zu melden – und lockt potenzielle Vermieter mit Prämien von 250 oder 500 Euro pro Person, abhängig davon, ob ein Mietverhältnis mit der Stadt oder direkt mit Obdachlosen oder Geflüchteten eingegangen wird. „Jede leer stehende Wohnung ist schneller und besser genutzt als Wohnungen, die wir erst noch bauen müssen. Bitte helfen Sie mit, dass Menschen Obdach, passenden Wohnraum und somit ein Zuhause in Friedrichshafen, in all unseren Ortschaften oder Stadtteilen finden“, schreibt der OB in seinem Aufruf.