Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Giffey fordert Kinderschutz
Vor zehn Jahren wurde der Missbrauchsskandal bekannt
BERLIN (KNA) - Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland fordert Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) mehr Einsatz, um solche Taten zu verhindern. „Ob in Schulen, Kitas, Kirchengemeinden oder Sportvereinen – wir müssen überall den bestmöglichen Schutz von Kindern ermöglichen und unsere Anstrengungen weiter intensivieren“, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vom Montag. „Denn die Zahlen sind nach wie vor erschreckend hoch.“
Experten gehen nach Giffeys Worten davon aus, dass eine Million Kinder in Deutschland Missbrauch erlebt haben oder erleben. „Das sind pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder“, sagte die Ministerin. Am 28. Januar 2010 wurde bekannt, dass am Jesuitengymnasium CanisiusKolleg in Berlin jahrelang Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden.
DVon Ludger Möllers und Agenturen er Gesprächstermin ist lange vereinbart, dann kommt die Absage per WhatsApp: Ein heute 70 Jahre altes Opfer des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche ist derzeit nicht in der Lage, über seine schlimmen Erfahrungen zu sprechen, muss sich in psychiatrische Behandlung begeben. Aus der Nachricht geht hervor: Es besteht akute Suizidgefahr. „Ich fürchte um mein Leben.“Kurz vorm Jahrestag der Aufdeckung des Skandals am 28. Januar 2010 kommen in dem Opfer zu starke und zu schmerzliche Erinnerungen wieder hoch. Der gelernte Zahntechniker und heutige Hartz-IV-Empfänger aus Oberschwaben war als Jugendlicher jahrelang im Priesterseminar Collegium Borromaeum der Erzdiözese Freiburg oder in Zeltlagern sexuell missbraucht worden. Heute muss er, da er früh arbeitsunfähig wurde, um Anerkennung und Entschädigung hart kämpfen.
In dem Interview hätte der Mann berichten wollen, wie er den 28. Januar 2010 erlebt hat: Der damalige Leiter des von Jesuiten geführten Canisius-Kollegs in Berlin, Pater Klaus Mertes, hat kurz zuvor durch drei ehemalige Schüler vom massenhaften Missbrauch durch zwei Patres der Schule erfahren. Er versichert den Männern, ihren Schilderungen zu glauben. Rund eine Woche später schreibt Mertes einen Brief an ehemalige Schüler der 1970er- und 80erJahre und ruft sie auf, sich zu melden, wenn ihnen Ähnliches widerfahren ist. Am 28. Januar berichtet die „Berliner Morgenpost“zuerst über das Schreiben.
In den kommenden Wochen melden sich mehr als 100 ehemalige Schüler. Und auch an anderen – nicht nur kirchlichen – Schulen werden Fälle publik. Dies löst eine bundesweite Debatte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche aus. Schnell wird klar, dass das Ausmaß immens ist. Und dass Kirche und Politik handeln müssen. Die katholische Kirche setzt mit dem Trierer Bischof Stephan Ackermann einen Missbrauchsbeauftragten ein, der auch am von der Bundesregierung einberufenen runden Tisch sitzt. Doch den Opfern reicht das nicht aus: Matthias Katsch, einer der drei Schüler, die sich zuerst gemeldet hatten, gründet zusammen mit anderen Betroffenen die Initiative „Eckiger Tisch“. Sie vertritt die Interessen der Missbrauchten. Katsch selbst war von seinem Sportlehrer, einem Jesuiten, immer wieder stundenlang mit Schlägen auf den nackten Hintern misshandelt worden. Der Lehrer sprach von einer Erziehungsmaßnahme mit Heilwirkung. Dass hier ein Sadist Befriedigung suchte, ahnte Katsch nicht.
Gebhard Fürst, Bischof von Rottenburg-Stuttgart, erinnert sich sehr lebhaft an jenen 28. Januar 2010, einen Donnerstag: „Ich war auf einer Reise in Indien und erfuhr in der Stadt Kerala von den Vorgängen in Deutschland“, berichtet Fürst, „der SWR befragte mich abends nur noch nach dem Missbrauchsskandal, nicht aber nach meinen Eindrücken aus Indien.“Für Fürst besonders bitter: Schon Anfang 2003 war in seiner Diözese eine unabhängige Kommission sexueller Missbrauch gegründet worden. Aus einigen konservativignoranten Reihen der Bischofskonferenz schlug dem schwäbischen Oberhirten daraufhin Unverständnis entgegen.
Ganz anders die Erinnerung des pensionierten Oberlehrers Ludwig Zimmermann aus Wolpertswende-Mochenwangen im Landkreis Ravensburg: „Für mich war der 28. Januar 2010 ein Tag der Erlösung“, sagt der heute 81-Jährige der „Schwäbischen Zeitung“. Der in Kirche und Kommunalpolitik aktive Pädagoge hatte die kirchlichen Behörden auf einen des Missbrauchs überführten Pfarrer immer wieder hingewiesen. Das katholische Umfeld wertete Zimmermanns Vorgehen als Illoyalität: „Und dann war ich aus dem katholischen Netzwerk in meiner Heimat ausgeschlossen.“
Mit jenem 28. Januar 2010 beginnt in der katholischen Kirche in Deutschland eine neue Zeitrechnung. Schnell stellt sich heraus: Es geht zunächst um Hunderte, später wird klar: Tausende Fälle des körperlichen und geistlichen Missbrauchs, des Vertrauensbruchs und brutalster Gewalt. Und um jahrzehntelanges Vertuschen. Des Missbrauchs überführte und verurteilte Priester wurden von ihren Vorgesetzten über Jahrzehnte nicht aus dem Dienst entlassen, sondern häufig einfach in die nächste Pfarrei versetzt, wo sie sich schon bald wieder an Kindern vergingen.
Als erste Reaktion startet der Dialogprozess, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen: Die Amtskirche in Deutschland sucht das Gespräch mit den Laien – den normalen Gläubigen. 2015 wird dieser Prozess nach fünf Jahren abgeschlossen. Greifbare Ergebnisse bleiben aber aus.
Auch der erste Versuch der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals scheitert Anfang 2013 nach einem Zerwürfnis zwischen der Kirche und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. Institutschef Christian Pfeiffer wirft den Bischöfen „Zensur“vor.
2014 beauftragen die Bischöfe Forscher aus Mannheim, Heidelberg und Gießen, den Skandal aufzuarbeiten. Für die Bistümer in Deutschland sind die Ergebnisse dieser Studie, veröffentlicht im Jahr 2018, ein Schock: Mindestens 3677 Minderjährige wurden in den Jahren 1946 bis 2014 von 1670 Klerikern missbraucht.
Den Bischöfen wird klar, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte, sondern dass der Missbrauch in der katholischen Kirche offenbar auch strukturelle Ursachen hat und es sich nicht nur um die Schuld Einzelner, sondern auch um ein systemisches Versagen handelt. Akten aus ganz Deutschland ab dem Jahr 1946, in denen Fälle ab 1918 zur Sprache kamen, belegen das Ausmaß des Skandals. Die Wissenschaftler benennen bestimmte Risikofaktoren wie den Zölibat – die Ehelosigkeit von Priestern – Klerikalismus und Machtstrukturen in der Kirche, also Macht über Finanzen, Personal, theologische Fragen und Finanzen in Männerbünden.
Die Deutsche Bischofskonferenz – allen voran ihr Vorsitzender, Kardinal Reinhard Marx, – spricht von Entsetzen, Abscheu und Scham, und kündigt an, die Akten an die Behörden weiterzuleiten.
Ein Blick in den Südwesten. Im Jahr 2019 stellt sich heraus: Die Ermittler arbeiten sich an Vorwürfen gegen 22 Personen, die in der Diözese Rottenburg-Stuttgart beschäftigt sind oder waren, sowie gegen 45 in der Erzdiözese Freiburg ab. Im Bistum Rottenburg-Stuttgart legt Generalvikar Clemens Stroppel Mitte 2019 Zahlen zu den bistumsweit 181 bekannten Missbrauchstaten und Beschuldigungen gegen Geistliche vor. Demnach gab es in den 1960er-Jahren mit 59 die meisten Fälle, in den 1970er-Jahren waren es 29, in den 1980er-Jahren 33 Missbrauchsvorwürfe beziehungsweise -taten. Seitdem gingen die Fallzahlen deutlich zurück: Für die 1990er-Jahre dokumentiert die Diözesanstatistik 16 Fälle, für die 2000er-Jahre elf Fälle und seit 2010 noch sechs Missbrauchstaten. Die jüngsten Fälle stammten aus den Jahren 2011 und 2014, wo es jeweils Vorwürfe gegen einen Priester gegeben habe. Seit 2015 habe es keine neuen Hinweise auf Fälle von aktuellem sexuellen Missbrauch gegeben. Missbrauchsfälle aus der Vergangenheit würden vereinzelt nach wie vor gemeldet. Von 2002 bis Ende August 2018 hat die Diözese an Missbrauchsopfer 640 000 Euro Entschädigung gezahlt sowie zusätzlich 130 000 Euro Therapiekosten übernommen.
Knapp anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung ist klar, was Kritiker der MHG-Studie von Anfang an befürchteten: Strafrechtliche Konsequenzen wird es für die Täter wohl kaum geben. Das legen Zahlen aus
Bayern nahe. Dort haben die Staatsanwaltschaften anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung der Studie in keinem einzigen Fall Anklage erhoben. Fast alle Ermittlungen gegen verdächtige Kirchenleute wurden dort eingestellt. Vier Ermittlungen laufen bayernweit noch, einige wenige Fälle wurden an Staatsanwaltschaften außerhalb Bayerns weitergeleitet. Alle anderen wurden zu den Akten gelegt. In vielen Fällen war die Tat schlicht verjährt oder es ergaben sich nicht genügend Anhaltspunkte für eine Straftat oder einen hinreichenden Tatverdacht. Oder die Täter sind verstorben.
Während die strafrechtliche Aufarbeitung stockt, passiert in den Bistümern viel: Die Kirche verschärft ihre Leitlinien zur Prävention und zum Umgang mit Missbrauchsfällen mehrmals, ab 2020 sollen sie für alle Bistümer einheitlich und bindend werden. Inzwischen gibt es in beiden Kirchen Anlaufstellen und Missbrauchsbeauftragte. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, verständigt sich im vergangenen November mit dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, dem Trierer Bischof Stephan Ackermann, über Eckpunkte zur Aufarbeitung von Missbrauch. Das Papier liegt nun den Bischöfen vor. Ackermann sieht die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche als „kirchengeschichtliche Zäsur“.
Die Aufarbeitung
„wird weiter schwierig und schmerzlich bleiben und zu Aggressionen oder zu Enttäuschungen führen“, sagte er. Der Skandal habe die Kirche massiv erschüttert und verändert; die Aufarbeitung habe Fragen nach Macht, Strukturen und Transparenz aufgeworfen.
Ein Bischof widerspricht und geht weiter: Heiner Wilmer, seit 2018 Bischof von Hildesheim, verlangt neben vielen anderen Maßnahmen wie den Entschädigungszahlungen tief greifende theologische Konsequenzen. „Wir werden den Glauben an die ,heilige Kirche' in Zukunft nur noch dann redlich bekennen können, wenn wir mitbekennen: Diese Kirche ist auch eine sündige Kirche.“Es gebe „Strukturen des Bösen“in der Kirche als Gemeinschaft. Die Bischöfe in Deutschland säßen, so Wilmer, „für mein Empfinden immer noch zu sehr auf dem hohen Ross“.
Und es geht um Geld: Betroffene können eine Anerkennungszahlung beantragen. Auf der Herbst-Vollversammlung der Bischofskonferenz im vergangenen September hatten Vertreter von Betroffenen zwei Modelle für mögliche Entschädigungsleistungen vorgestellt. Ein Modell sieht eine pauschale Zahlung an jeden Betroffenen in Höhe von 300 000 Euro vor. Ein anderes Modell sieht individuelle Zahlungen zwischen 40 000 und 400 000 Euro im Einzelfall vor.
Die Bischofskonferenz hat sich bislang nicht dazu geäußert, wie und in welcher Höhe sie Entschädigungen zahlen wird.
Dieses Vorgehen stößt auf Kritik: Pater Klaus Mertes, jener Jesuit, der mit seinem Brief 2010 den Skandal in der katholischen Kirche publik gemacht hatte, wirft der katholischen Deutschen Bischofskonferenz vor, in der Debatte über mögliche Entschädigungszahlungen an Betroffene nicht „die ganze Wahrheit“zu sagen. Die Bischofskonferenz lasse bis heute die Forderungen in sechsstelliger Höhe stehen, ohne sie zu kommentieren, sagt er: „Das erfüllt mich mit tiefem Misstrauen.“Er finde es problematisch, dass sich die Debatte so auf den finanziellen Aspekt der Anerkennung verenge, sagt Mertes. Geld sei ein Medium der Anerkennung, aber Geld alleine reiche nicht. Mindestens genauso wichtig seien Zeit und das Zulassen von Beziehung und Auseinandersetzung. Und Mertes fürchtet: „Wir stehen ganz kurz vor einer tiefen und schweren neuen Enttäuschung der Opfervertreter.“
Diese sind skeptisch, ob sich die Amtskirche bewegen wird. Ludwig Zimmermann, jener Lehrer aus Wolpertswende-Mochenwangen, der nach dem Hinweis auf einen des Missbrauchs verdächtigen Priester ausgegrenzt worden war, kann keine Entschädigung erwarten: „Ich würde mich ja schon freuen, wenn mal jemand auf mich zukommen und mit mir reden würde.“
Von dem 70-Jährigen aus Oberschwaben, der mit 48 Jahren seinen Beruf aufgeben musste, ist bekannt, dass für ihn nur die pauschale Entschädigung infrage kommt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich vor einer Kommission antrete und nochmals alle Einzelheiten aufzähle“, hatte er im Oktober der „Schwäbischen Zeitung“gesagt und begründet: „Ich musste aufgeben, konnte nicht mehr arbeiten und lebe jetzt von Sozialhilfe.“Daher sei es richtig, dass die Entschädigungssumme auch die finanziellen Nachteile berücksichtige.
Und Matthias Katsch, einer der drei ehemaligen Schüler, die vor zehn Jahren zum damaligen Rektor des Berliner Canisius-Kollegs gingen und anzeigten, missbraucht worden zu sein? Er ist inzwischen Mitglied der vom Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung eingerichteten Aufarbeitungskommission. Ihm fehlt noch immer eine glaubwürdige Aufarbeitung. Katsch bilanziert: „Positiv verändert hat sich gesamtgesellschaftlich sicher, dass die Sichtbarkeit der Betroffenen zugenommen hat sowie die Bereitschaft ihnen zuzuhören. Das ist natürlich ein gewisser Erfolg. Durch die Einrichtungen des Missbrauchsbeauftragten und anderer Gremien haben wir es als Betroffene geschafft, dass das Thema nicht wieder von der Agenda gerutscht ist. Niemand kann damit zufrieden sein, was bislang erreicht wurde. Wir sind auf dem Weg, aber es muss weitergehen.“
„Wir stehen ganz kurz vor einer tiefen und schweren neuen Enttäuschung der Opfervertreter.“
Klaus Mertes, früherer Leiter des Canisius-Kollegs, kritisiert das Vorgehen der Kirche im Missbrauchsskandal
„Niemand kann damit zufrieden sein, was bislang erreicht wurde.“
Für Matthias Katsch, der mit anderen Betroffenen den „Eckigen Tisch“gegründet hat, ist die Aufarbeitung des Skandals noch nicht zu Ende